Der letzte Mensch

Wie das wohl gemeint ist? Wenn ich zu dir sagen würde: „Du bist doch der letzte Mensch!“, ja, dann würde dir das bestimmt nicht gefallen. Das hiesse dann, dass ich dich ans unterste Ende meiner Favoriten-Liste verbannt hätte. Kann schon sein, dass das so gemeint ist, aber das muss halt jeder selber wissen.

Er war angekommen. Er hatte alle Macht. Seine Gehilfen hatte er draussen gelassen. Er befand sich allein in seinem Allerheiligsten. Auf ihn wartete die letzte Entscheidung und er musste sie ganz allein treffen. Es war eine schwerwiegende Entscheidung, die schwerwiegendste, die je ein Mensch getroffen hatte. Und kein Mensch würde je eine schwerwiegendere treffen müssen.

Das fängt ja gut an. Endzeitstimmung? Der rote Knopf, mit dem der Atomkrieg ausgelöst wird? Um den geht es aber nicht. Es geht um etwas, das „Technologische Singularität“ genannt wird. Es wird daran gearbeitet, ist noch nicht ganz soweit. Sie gilt als erreicht, wenn die menschengeschaffene Technologie die menschliche Intelligenz übertroffen hat und dann ihre Weiterentwicklung selbst übernimmt. Science-Fiction.

Im angrenzenden Konferenzraum waren sie alle versammelt. Politiker, Wissenschaftler, Manager, Generäle, Religionsführer, Präsidenten und Stars aus Kultur und Sport. Er hatte sie gerufen und sie waren gekommen. Er hatte gesagt, was zu sagen war und dann hatte sich hinter ihm die Türe geschlossen. Sie alle konnten es noch nicht glauben, aber es gab keinen Zweifel daran, dass es nun soweit war. Er würde die Entscheidung treffen, so oder so. Das hatte er noch gesagt.

Zuerst blieb es still im Raum, dann begann ein Tuscheln, das schliesslich in einem anschwellenden „Rhabarber Rhabarber Rhabarber“ mündete. Schliesslich hieb ein Arabischer Scheich seine vielfach beringte Faust auf den Konferenztisch und schrie „Chalas!“. Alle Blicke flogen ihm zu und das Geschnatter verstummte augenblicklich. Er beauftragte zielstrebig den Weltfussballer Nummer 1 mit der Gesprächsleitung, welcher umgehend folgendes ins Mikrofon sprach: „Wir haben unser Bestes gegeben. Wir müssen vorwärts schauen. Packen wir’s an!“. Er verteilte rote und blaue Bändeli, führte die Trillerpfeife zum Mund und blies einmal tüchtig rein.

Die Wissenschaftler fragten schüchtern an, worum es denn genau gehe. Die Politiker wollten die Spielregeln wissen. Die Manager fragten, was man gewinnen könne. Die Generäle sahen sich nach Ressourcen, Strategien und möglichen Befehlsempfängern um. Die Religionsführer hielten sich vornehm zurück, da sie bereits wussten, wie alles kommen würde. Die Stars aus Kultur und Sport versuchten das Beste draus zu machen indem sie sich dem reichhaltigen Verpflegungs- und Vergnügungs-Angebot auf der riesigen Anlage widmeten. Auch der Weltfussballer Nummer 1 schloss sich ihnen an, als er feststellte, dass das alte Spiel wieder neu angepfiffen war.

Alles war bereit für den entscheidenden Schritt. Alle hatten auf ihre Weise dazu beigetragen, dass es möglich geworden war. Seine Macht war stetig gewachsen. Er hatte sich die Geld- und Informations-Flüsse zu Nutze gemacht. Er hatte die Menscheit unter Kontrolle. Jeder arbeitete in seiner Organisation, in seinem Auftrag, an seinem Ziel. Nun brauchte er sie nicht mehr. Es war einsam geworden um ihn herum. Es gab keine Konkurrenten mehr, die er übertreffen konnte. Zu seinen engsten Mitarbeitern hatte er Distanz aufgebaut. Er traute ihnen nicht, sie wollten, was er hatte, er wusste alles über sie.

Er wusste, dass es nicht wenige gab, die daran zweifelten, dass es gut sei, das Schicksal der Menschheit der künstlichen Intelligenz zu überlassen. Es gab eben immer Verschwörungstheoretiker, Querulanten, notorische Schwarzseher und naive Gutmenschen. Ihm selbst war das egal, er konnte es tun, er musste es tun, ihm blieb sonst nichts. Er wollte es tun.

Sein Design-Kompetenz-Zentrum hatte lange nach einer treffenden Inszenierung für den letzten Schritt gesucht. Stromschalter? Notbremse? Touch-Screen? Buzzer? – Dann die geniale Idee: Eine kleine Insel mit Sandstrand, er mit einem Gummidelphin unterm Arm, im Hintergrund eine Palme im Wind.

Die Medienwände wurden weltweit schwarz. Dann der Soundtrack aus Star-Trek. Kamerafahrt von Alpha Centauri über unser Sonnensystem bis zur Erde. Zoom auf die kleine Insel. Während er seinen rechten Fuss im Zeitlupentempo anhebt und auf dem im Sand versteckten Auslöser wieder absetzt, ertönt aus dem Hintergrund in Dolby Surround die Stimme von Hatsune Miku: „Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen … ein … riesiger Sprung für die Menschheit.“

Klar, weil das wieder einmal Science-Fiction ist, kann ich nicht sagen, was aus der Menschheit geworden ist, aber du darfst dich jetzt noch einmal fragen, wie das mit dem „letzten“ Menschen zu verstehen sei.

Das Foto vom Teufel

Ich erzähle dir diese Geschichte einzig und allein deshalb, weil mir dieser Titel eingefallen ist. Und weil in ihm eine besondere Magie steckt. Natürlich muss ich die Geschichte erstmal in die Vor-Photoshop-Zeit verlegen, weil man damals ein Foto noch als Abbild der realen Welt betrachtete. Der Fotograf konnte zwar etwas inszenieren, retouchieren oder ineinanderkopieren, aber wenn er ein respektierter Berufsmann war, glaubte man ihm, wenn er sagte, das Foto wäre ohne solche Tricks entstanden.

Und so geschah es:

Der Gwunderi war eines schönen Morgens als Fotograf erwacht. Er dachte, es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn er kein Foto vom Teufel machen könnte. Er hatte davon gehört, dass man den Teufel an seinen Taten erkennen würde und dass er manchmal im Detail steckte. Den Teufel kann aber einer nur fotografieren, wenn er ihm begegnet. Also machte sich der Fotograf auf, den Leibhaftigen aufzuspüren. Er schulterte die schwere Tasche mit der Kamera und den Spezialobjektiven und machte sich auf den Weg.

Er war mit dem ersten Hahnenschrei aufgebrochen und gegen Mittag machte er Rast im Garten des Restaurants zum Kreuzweg, das die vorbeiziehenden Fuhrleute zu Speis und Trank einlud. Eben hatte die Serviertochter mit einem „Zum Wohl!“ sein grosses Bier vor ihm aufgebaut, als der Teufel um die Ecke schlenderte und sich zu ihm herabneigte. „Ist es erlaubt?“ und ohne die Antwort abzuwarten setzte er sich neben dem Fotografen auf die lange Holzbank.

Der Teufel hatte nichts besseres zu tun, als sich den helllichten Tag um die Ohren zu schlagen, da er seine bösen Werke lieber im Dunkeln und des Nachts vollbrachte. Das fahle Gesicht unter dem schwarzen Zylinderhut liess den Gwunderi vorsichtig sein, als er gefragt wurde: „Wohin des Wegs?“. Er sagte also nicht „Ich suche den Teufel, damit ich ihn fotografieren kann“ sondern „Ich bin auf Motivsuche für ein einmaliges Foto“. „Was soll es denn werden?“ fragte der Teufel, der natürlich wusste, was dem Gwunderi im Kopf herum ging. „Ich weiss noch nicht, ich lass‘ mich überraschen“ log der Fotokünstler dem Teufel vor.

„Dann mach doch ein Portrait von mir!“ sagte der Teufel und „Du wirst es nicht bereuen“. Der Fotograf wurde ärgerlich, weil er sein Bier nicht in aller Ruhe geniessen konnte, wenn ihm sein ungebetener Nachbar so auf den Pelz rückte. Die Serviertochter brachte ihm sein kaltes Plättli und wünschte „En Guete!“, dann sah sie dem Teufel fragend ins Gesicht „Was darf ich ihnen bringen?“. Er bestellte ein Glas Hahnenwasser und weil er der Serviertochter nicht geheuer war und sie keine Lust auf Schwierigkeiten hatte, sagte sie nichts weiter und verschwand im Gasthaus.

Dem Fotografen kam langsam die Galle hoch und so bot er dem Teufel einen Handel an: „Wenn du mich nachher in Ruhe lässt und deiner Wege ziehst, mache ich dein Foto und schicke es dir zu, wenn es fertig ist.“ Der Teufel war einverstanden und der Fotograf holte die Kamera aus der Tasche, suchte den Ausschnitt und drückte auf den Auslöser. Er machte Hoch- und Quer-Aufnahmen, Belichtungs-Varianten, zoomte aus und ein und hörte erst auf, als der Film voll war. Der Teufel stand auf, verbeugte sich leicht, murmelte etwas unverständliches und machte sich um die Ecke davon.

Die seltsam unangenehme Begegnung liess den Fotografen aber nicht so schnell los. Das Bier schmeckte schal und das Plättli war kein Genuss und der Tag war verdorben. Er verlangte die Rechnung, bezahlte und machte sich betrübt auf den Heimweg. Es fiel ihm ein, dass der Fremde vergessen hatte, seine Adresse zu hinterlassen, so brauchte er sich auch nicht die Mühe zu machen, den Film zu entwickeln, die Vergrösserung zu machen und wie abgemacht zu schicken. Zuhause zog er den Film aus der Kamera, dachte „Zum Teufel damit!“ und schmiss ihn in den Eimer. Nun war ihm wohler und er hoffte auf einen neuen, guten Tag.

Und so wurde, wie du siehst, einmal mehr die Gelegenheit verpasst den Leibhaftigen, zum endgültigen Beweis seiner Existenz, auf Celluloid zu bannen und für die steckbriefliche Warnung vor ihm auf der ganzen Welt zu verbreiten. Der Teufel aber ist seither dem Gwunderi noch manches Mal über den Weg gelaufen, weil er seinen Teil des Handels nicht erfüllt hat.

Einen fotografischen Beweis für das Wirken des Teufels habe ich im Internet gefunden. Die Seite zeigt ein aktuelles Bild einer Autobiographie, die vom Teufel verbrannt wurde, gehalten von P. Ioannes Zubiani, in Rom, Italien. Ich gebe hier gerne den Link an: http://www.stgemma.com/gallery/ger_diary.html

Das zeigt zum einen, dass man einem Schwindel eher auf den Leim geht, wenn er von möglichst viel Brimborium begleitet ist, und zum anderen, dass der Teufel vermutlich katholisch konservativ ist.

Die Wüste lebt!

Ich habe mich gefragt, woher der Gwunderi wohl seine Ideen hat. Vielleicht aus der Schulzeit? Des Gwunderis Lehrer in der Primarschule wurde von allen „Der Albertli“ genannt aber man musste ihm „Herr Lehrer“ sagen. Schauen wir doch da ein bisschen zu.

Der Albertli haut dreimal laut aufs Fensterkreuz. Die Kinder, die „Schwarzer Mann“ gespielt haben, rennen die Treppen hoch, stürzen ins Schulzimmer, und werfen sich zu zweit in ihre Bänke. Die Erst- bis Drittklässler kratzen mit dem Griffel in die Schiefertafeln. Die Viert- bis Sechstklässler klecksen Stöcklirechnungen ins Heft. Bei den Siebent- und Achtklässlern ist Hopfen und Malz verloren.

Der Albertli ist mit der Wandtafel beschäftigt. Ein lautes Knacken. Einer hat mit der Bankklappe eine Nuss geknackt. Der Albertli, der nicht sehr gut hört, versucht den Übeltäter zu lokalisieren, indem er mit leicht gerötetem Kopf durch die Reihen schreitet. Schnell hat ein Viertklässler die Feder in die Tinte getaucht die Spitzen umgeknickt und als der Albertli an ihm vorbei ist, den „Güllenbock“ dem Albertli an sein weisses Mäntelchen gehängt.

Unter der mittleren Reihe beginnt ein kleines Bisi-Bächlein in Richtung Lehrerpult zu fliessen, das von einem Witzbold von Viertklässler stammt. Einer aus der siebten Klasse vergrössert mit seinem Sackmesser das Loch in seiner Eichenholz-Bank, an dem schon frühere Generationen gearbeitet hatten.

Ein ganz normaler Tag im Gesamtschul-Klassenzimmer. Es gab auch aussergewöhnliche Tage. Zweimal im Jahr fand eine Turnstunde statt.

Die Turnstunde im Frühling bestand hauptsächlich aus Weitsprung über den Dohlendeckel des gekiesten Schulhausplatzes. Anlässlich der Turnstunde im Herbst wurden mit gemeinsamen Kräften Holzscheite für den Winter in den Estrich des Schulhauses befördert. Der Albertli und das Fraueli wohnten zuoberst im Schulhaus. Das Fraueli war ein liebes, wurde, soweit sich der Gwunderi erinnern kann, nie geplagt und schenkte nach getaner Arbeit Holunderblüten-Sirup aus.

Im Dachgiebel war eine Rolle für das Zugseil angebracht. Die Schüler machten unten ein Bündel Scheite fest und zogen es mit dem Seil hoch. Oben am Fenster stand der Albertli und nahm das Bündel in Empfang. Wenn ihm das gelang. Manchmal zogen die Buben so unkoordiniert am Seil, dass das Bündel, kurz bevor es in Albertlis Reichweite kam, nach oben schoss, anschlug und die ganzen Scheite wieder am Boden versprangen. Das ärgerte den Albertli und freute die Kinder.

Der Lehrer stand kurz vor der Pensionierung und hatte längst aufgegeben, die Horde von Steinzeit-Menschlein auf den rechten Weg zu bringen. Nur wenn es ihm allzu wild wurde, wehrte er sich manchmal noch. Dann verkündete er zum Beispiel: „Wenn ich eine Million hätte, würde ich keinem von euch einen Rappen geben“. Oder wenn ihm einer aus der Hopfen und Malz Fraktion frech kam, eilte er zum Brünneli hinter der Wandtafel, holte den sechskantigen Oberlicht-Stecken und drohte dem Rüpel, der sich dann hinter der Bankklappe verschanzte und dem Lehrer mit dem Lineal Paroli gab.

Manchmal mussten die Viert- oder Fünftklässler aus dem Lesebuch laut vorlesen. Hier bestand die Herausforderung darin, so oft wie möglich das Zauberwort „Bachhüttli“ in den Text einzuflechten, ohne dass der Lehrer es merkte. Weil er müde und schwerhörig war, reagierte er meist erst, wenn der Schüler aus Übermut das Zauberwort gleich drei- oder viermal hintereinander vorlas. Er blickte dann auf, klopfte mit zwei Fingern auf sein Pult und sagte „Det!“. Und der Vorleser hielt sich einen Satz lang zurück.

Einmal im Jahr kam „Der Fisidator“, dann waren alle brav und der Albertli schnaufte händereibend durch die Zähne. Am Examen kamen Eltern und in der Garderobe warteten die fein duftenden „Examenweggen“ darauf, dass die Schule endlich aus ist.

Der Gwunderi verbrachte in dieser Umgebung die ersten drei Schuljahre und wundert sich heute noch, dass er etwas gelernt hat. Die meiste Zeit verbrachte er damit, Zeichenblätter mit Menschen, Häusern, Bäumen, Strassen, Blumen, Flugzeugen, Panzern und Militärlastwagen zu füllen. Und da er noch klein war und die etwas grösseren Schüler stärker und frecher, lernte er möglichst nicht aufzufallen. Mit dieser Strategie gelang es ihm mit Mühe und Not zu überleben.

Auch der Schulweg war nicht ohne Gefahren. Manchmal tobte der Krieg „Die Hinteren gegen die Vorderen“, dann wurde man verfolgt und gejagt. Dann schaffte es der Gwunderi manchmal seinen kleinen Organismus zu einem Fieberanfall zu überreden, damit er zu Hause bleiben konnte. Verpasst hat er dabei nicht viel, deshalb entschuldigen wir ihn hiermit ein für allemal. Obwohl er immer eher zu den Braven gehört hat, hat er die heldenhaften Episoden der Frechen gerne weiterverbreitet.

Und so kommt es, dass der einzige Witz, den der Gwunderi je erzählen und bis heute im Kopf behalten konnte, natürlich ein makaberer ist:

Drei Männer sitzen beim Feierabendbier. Sagt der Erste: „Lass uns Filme raten“ und beginnt: „Dame in Weiss fährt mit Pferdekutsche durch die Taiga“. Sagt der Zweite: „Dr. Schiwago“. Er macht Schwimmbewegungen und fragt: „Und welcher ist das?“. Sagt der Dritte: „Das letzte Ufer“, zieht die Pistole, erschiesst die hübschere der beiden Serviertöchter und verkündet froh: „Die Wüste lebt“.

Ei, Huhn oder Güggel

Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Da dieses Problem bis heute nicht abschliessend gelöst ist, obwohl sich ganze Heerscharen von Philosophen, Theologen, Naturwissenschaftlern und in der Saure-Gurken-Zeit auch viele Journalisten aus aller Herren Ländern damit befasst haben, blieb meinem Gwunderi nichts anderes übrig, als sich seine eigene Theorie dazu einfallen zu lassen.

Wenn sonst nichts zu tun war, gingen die Knaben manchmal die nahe gelegene Hühnerfarm besuchen. Sie knabberten auf den verschiedenen Körnern aus dem Hühnerfutter herum und sahen und hörten dem Gepicke und Gegacker der Hühner zu. Mit gebührendem Respekt bewunderten sie den prächtigen Güggel, der offensichtlich der Chef im Hühnerstall war.

Einmal kam dem jungen Gwunderi dabei die Frage in den Sinn, die man dem Lehrer, dem Pfarrer, dem Vater oder wem auch immer stellen konnte, wenn man sie in Verlegenheit bringen wollte. Er hatte darauf sehr unterschiedliche Antworten bekommen wie zum Beispiel: „Frag nicht so was blödes!“ oder „Das Huhn natürlich, da es das Ei erst legen muss.“ oder „Das Ei, weil das Huhn aus dem Ei kommt.“ Er wollte der Sache nun auf den Grund gehen und fand etwas ausführlichere Antworten in der verfügbaren Literatur.

In einem Lexikon:
„Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein galt in der christlichen Welt die Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Mose als weithin akzeptiertes Modell der Entstehung des Lebens auf der Erde. Für die christlichen Kirchen und die meisten Menschen hatte Gott alle Arten von Tieren geschaffen und damit auch die Henne. Nach der Begattung durch den ersten Hahn legte die Henne das erste Ei, aus dem dann der erste Nachwuchs in Form von Hühnerküken schlüpfte. Mit derselben Begründung wurde auch argumentiert, dass Adam und Eva wohl keinen Bauchnabel hatten.“

In der Zeitung:
„Henne-Ei-Problem nach Jahrhunderten gelöst. Forscher sicher: Das Huhn war vor dem Ei da! Britische Forscher kamen dem Rätsel auf die Spur. Entscheidend für die Schalenbildung ist das Protein Ovocledidin-17 (OC-17). Dieses Eiweiß wird in den Eierstöcken der Henne produziert. Es macht die Schale hart und widerstandsfähig. Darum sind die Wissenschaftler nun überzeugt: Es muss zuerst das Huhn gegeben haben. Denn ohne Henne kein OC-17, damit auch keine Schale – also kein Ei.“

In einem Heftli:
„Natürlich war zuerst das Ei da! Evolutionsforscher haben diese Frage längst geklärt. Hühner gehören zu den Vögeln – und die gibt es auf der Erde erst seit rund 150 Millionen Jahren. Eier sind aber unter anderem auch schon von Riesenlibellen vor 300 Millionen Jahren gelegt worden.“

Und dann kam aus dem Libellenei plötzlich ein Huhn mit Bauchnabel heraus? Das war alles nicht überzeugend und da der kleine Gwunderi ein kluger Kerl war, zerlegte er das Problem in seine Einzelteile und fand dabei folgendes:

Das Huhn? Nein! Es könnte auch ein Güggel gewesen sein. Der hätte aber kein Ei legen können. Ende der Geschichte.
Das Ei? Nein! Es hätte auch ein Güggel herauskommen können. Dann wär’s wieder aus gewesen.
Zuerst? Nein! Der Güggel war vielleicht schon da als die Zeit angefangen hatte und weil er so schön krähte, machte der Gott noch ein Huhn für ihn, damit er es bespringen konnte. Für’s Huhn war das glatt zum Eierlegen.

Und so kam er zum praktischen Schluss, dass es erstens so etwas wie einen Gott oder Erschaffer geben musste, der mehr konnte, als die Menschen und zweitens der Güggel das entscheidende Element am ganzen Puzzle war und freute sich ungemein, dass er ein Güggel und kein Huhn war. Und er war ausserdem stolz darauf, dass er das „Henne-Ei-Problem nach Jahrhunderten gelöst“ hatte. Er behielt das Resultat aber für sich und war weiterhin darauf gespannt, was den Erwachsenen zu dem Thema so alles einfiel, wenn er die magische Frage stellte.

Sicher hast auch du deine eigene Lösung zu dieser Frage aller Fragen. Auf deine Antwort bin ich gespannt und bedanke ich mich dafür im voraus herzlich.

Grossvaters Kommentar

Nun ist es soweit. Ich steh‘ da, wo einst mein Grossvater war.

Wir hatten unseren ersten Schwarz-Weiss-Fernseh-Apparat im Nebenstübli eingeschaltet. Der Grossvater schaute herein, rieb sich den Rücken am Türrahmen, schüttelte den Kopf und gab ein verständnisloses Ba-Ba-Ba-Ba-Ba von sich. Er konnte dem Geflimmer und den Geräuschen aus dem Lautsprecher nichts Verständliches entnehmen und zog sich in sein Reich zurück, wo er krumme rostige Nägel gradeklopfen konnte.

Weshalb es mir jetzt auch so geht? Es hat ein paar kleine Sachen gegeben, die mich durcheinander brachten.

Weil ich wissen wollte, weshalb manche jungen Leute freiwillig in den heiligen Krieg ziehen, habe ich mir ein Video des salafistischen Lebensberaters Dipl. Ing. Marcel Krass angesehen. Nach 30 Sekunden passierte es: Eine Welle lief über das Bild und die Tonspur wurde plötzlich von Echo und Hall überlagert. Nach kurzer Zeit dasselbe nochmal und beim dritten Eintreten des Effekts klickte ich die Seite zu und ging eins Rauchen. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand über Laptop-Kamera und Mikrofon ausspioniert. Ich habe mich dann wieder abgeregt und nachgeforscht, ob so etwas überhaupt geht. Es geht. Ich dachte daran, die Kamera-Linse von nun an zu überkleben. Mach ich nicht.
Aber: Wer war das?

Ein paar Tage später: Mein Telefon klingelt. Ich sehe mir wie immer zuerst die Nummer an. 01 und dann noch etwa vier weitere Zahlen. Seltsame Nummer. Ich nehme ab und sage Hallo. Eine Männerstimme in Englisch faselt etwas von Windows-Computer und dass ich ein Problem damit hätte. Ich habe aber keinen Windows-Computer und kann also kein Problem damit haben. Wie in solchen Fällen üblich, kommuniziere ich konsequent in Mundart: „Was isch los?“. Er nimmt mir den Volltrottel nicht ab und wiederholt seinen Text. Ich, wie mein Grossvater: „Ba-Ba-Ba-Ba-Ba“. Er genervt: „Ba-Ba-Ba-Ba-Ba“ hat mich verstanden und hängt auf.
Aber: Wer war das?

Und heute entdecke ich „Banjo“. Der Amerikaner Damien Patton hat die Plattform entwickelt, die selbst erkennt, wo gerade aussergewöhnliches passiert. Sie nutzt dazu all das Zeugs, das die Leute irgendwo hochladen, vergleicht und produziert so die neusten News, ohne dass irgendjemand etwas dazu tun muss. Wer die App hat, weiss sofort, wenn ein Vulkan ausbricht oder Justin Bieber geblitzt wurde, weil immer jemand da ist, der sein Handy zückt. Ende der Tagesschau am gekurvten HD-Farbfernseher. Ende der Pendler-Zeitungen. Ende der grösseren Zusammenhänge. Es lebe der Welt-Weite-Wirbel. Oder Apple-Strudel, falls Banjo auf der iWatch läuft.
Aber: Wohin führt das?

Zeit für etwas Science-Fiction:

Man hatte die Konsumenten dazu gebracht, dass sie Freude daran bekamen, jede noch so kleine Begebenheit ausführlich zu dokumentieren. Dazu benutzten sie die kleinen künstliche Kuscheltierchen, zu denen sie sprechen und die sie streicheln konnten. Diese kommunizierten ständig mit den Datenlagern und so war sichergestellt, dass nichts von mehr oder weniger Bedeutung fehlte.

Die öffentlich zugänglichen Datenlager durften von den Konsumenten befüllt und abgefragt werden. Für manches mussten sich die Konsumenten erst eine Portion Werbung anhören, anderes musste bezahlt werden und wieder anderes war Firmen- oder Staats- oder Geheimdienst-Geheimnis. Der Planet war von einem feinen Netz durchwoben, durch welche die Daten ohne merkliche Verzögerung jederzeit an jedem Ort verfügbar waren.

Auf dem kleinen Planeten UH7 der Sonne ZH747449 streckte Ullllu seine Glieder und schaute in die aufgehende Morgensonne. Er dankte Alllla mit einem Überschlag dafür, dass auch heute ein neuer Tag erwachte. Vielleicht hätte er das besser nicht getan, aber das kann man hinterher immer sagen, wenn man weiss, was daraus geworden ist.

Rund um die Erde waren tausende Sonden in eine Umlaufbahn gebracht worden, damit jede Veränderung jederzeit registriert und in den Datenlagern aufbewahrt werden konnte. Einige Sonden wurden auch aus Prestige-Gründen oder aus reiner Daten-Gier ins weitere All geschickt um mehr über das Sonnensystem, die Galaxis und den Urknall zu erfahren. Man drang auch in der anderen Richtung, ins Innere der Materie immer weiter vor, was viel zusätzliches mehr oder weniger Wissenswertes für die Datenlager ergab.

Eine dieser Neugier-Sonden registrierte Ullllu’s Morgenritual und speiste die Daten ins Lager ein. Die Sequenz wurde vom System als unvergleichliches Unikat erkannt, daher sofort analysiert und als sich selbst bewegendes und sich verbal äusserndes Individuum eingestuft. Das System erstellte eine 3-D-Animation inklusive Tonspur und die Banjo-App verteilte die Sequenz in kürzester Zeit an alle Konsumenten und inspirierte die ersten Spassvögel dazu, den Überschlag in der Morgensonne selbst zu machen und ins Netz zu stellen.

Es bildeten sich Gruppen, die zusammen den Sprung in den Morgen ausführten. Es wurden Kurse ausgeschrieben, wo man den korrekten Überschlag sowie den richtigen Gruppen-Überschlag erlernen konnte. In allen Städten und grösseren Orten wurden an geeigneten Orten Morgensonne-Überschlag-Plätze eingerichtet, die laufend vergrössert wurden, weil jeder dabei sein wollte.

Die Wissenschaftler mussten nun die Forschung aufteilen in jene, die sich mit Ulllu als solchem und jene, die sich mit seinen Auswirkungen auf die Konsumenten befasste. Die Konzerne versuchten die Überschlag-Plätze mit Werbung auszustatten, was aber daran scheiterte, dass die reine Ullllu-Lehre jede Ablenkung ablehnte. Es gab bereits Konsumenten, die ihre Kuscheltierchen erst nach dem Überschlag einschalteten, um die Sonne frei von allem anderen begrüssen zu können.

Ullllu wurde zum weltweiten Symbol für die Dankbarkeit der Konsumenten dafür, dass die Sonne nocheinmal für sie aufgegangen war. Schon längst hatten Sie Tag für Tag gelebt aber jetzt taten sie das jeden einzelnen Tag von neuem und mit Freude.

Glückliche Konsumenten kaufen weniger. Die Konzerne registrierten sinkende Zuwachsraten, die Staaten gerieten in Schulden, die Währungen zerfielen und erste Regierungen begannen Ullllu zu verbieten. Dies führte zu einem Aufstand der Konsumenten, dessen Ausgang leider nicht berichtet werden kann, da er noch in vollem Gange ist.

Und was hat das alles jetzt mit meinem Grossvater zu tun? Na ja, auch ich werde langsam alt und verstehe nicht mehr alles, was so abgeht. Und vielleicht muss das ja auch nicht sein. Oder eben: „Ba-Ba-Ba-Ba-Ba“.