Grossvaters Kommentar

Nun ist es soweit. Ich steh‘ da, wo einst mein Grossvater war.

Wir hatten unseren ersten Schwarz-Weiss-Fernseh-Apparat im Nebenstübli eingeschaltet. Der Grossvater schaute herein, rieb sich den Rücken am Türrahmen, schüttelte den Kopf und gab ein verständnisloses Ba-Ba-Ba-Ba-Ba von sich. Er konnte dem Geflimmer und den Geräuschen aus dem Lautsprecher nichts Verständliches entnehmen und zog sich in sein Reich zurück, wo er krumme rostige Nägel gradeklopfen konnte.

Weshalb es mir jetzt auch so geht? Es hat ein paar kleine Sachen gegeben, die mich durcheinander brachten.

Weil ich wissen wollte, weshalb manche jungen Leute freiwillig in den heiligen Krieg ziehen, habe ich mir ein Video des salafistischen Lebensberaters Dipl. Ing. Marcel Krass angesehen. Nach 30 Sekunden passierte es: Eine Welle lief über das Bild und die Tonspur wurde plötzlich von Echo und Hall überlagert. Nach kurzer Zeit dasselbe nochmal und beim dritten Eintreten des Effekts klickte ich die Seite zu und ging eins Rauchen. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand über Laptop-Kamera und Mikrofon ausspioniert. Ich habe mich dann wieder abgeregt und nachgeforscht, ob so etwas überhaupt geht. Es geht. Ich dachte daran, die Kamera-Linse von nun an zu überkleben. Mach ich nicht.
Aber: Wer war das?

Ein paar Tage später: Mein Telefon klingelt. Ich sehe mir wie immer zuerst die Nummer an. 01 und dann noch etwa vier weitere Zahlen. Seltsame Nummer. Ich nehme ab und sage Hallo. Eine Männerstimme in Englisch faselt etwas von Windows-Computer und dass ich ein Problem damit hätte. Ich habe aber keinen Windows-Computer und kann also kein Problem damit haben. Wie in solchen Fällen üblich, kommuniziere ich konsequent in Mundart: „Was isch los?“. Er nimmt mir den Volltrottel nicht ab und wiederholt seinen Text. Ich, wie mein Grossvater: „Ba-Ba-Ba-Ba-Ba“. Er genervt: „Ba-Ba-Ba-Ba-Ba“ hat mich verstanden und hängt auf.
Aber: Wer war das?

Und heute entdecke ich „Banjo“. Der Amerikaner Damien Patton hat die Plattform entwickelt, die selbst erkennt, wo gerade aussergewöhnliches passiert. Sie nutzt dazu all das Zeugs, das die Leute irgendwo hochladen, vergleicht und produziert so die neusten News, ohne dass irgendjemand etwas dazu tun muss. Wer die App hat, weiss sofort, wenn ein Vulkan ausbricht oder Justin Bieber geblitzt wurde, weil immer jemand da ist, der sein Handy zückt. Ende der Tagesschau am gekurvten HD-Farbfernseher. Ende der Pendler-Zeitungen. Ende der grösseren Zusammenhänge. Es lebe der Welt-Weite-Wirbel. Oder Apple-Strudel, falls Banjo auf der iWatch läuft.
Aber: Wohin führt das?

Zeit für etwas Science-Fiction:

Man hatte die Konsumenten dazu gebracht, dass sie Freude daran bekamen, jede noch so kleine Begebenheit ausführlich zu dokumentieren. Dazu benutzten sie die kleinen künstliche Kuscheltierchen, zu denen sie sprechen und die sie streicheln konnten. Diese kommunizierten ständig mit den Datenlagern und so war sichergestellt, dass nichts von mehr oder weniger Bedeutung fehlte.

Die öffentlich zugänglichen Datenlager durften von den Konsumenten befüllt und abgefragt werden. Für manches mussten sich die Konsumenten erst eine Portion Werbung anhören, anderes musste bezahlt werden und wieder anderes war Firmen- oder Staats- oder Geheimdienst-Geheimnis. Der Planet war von einem feinen Netz durchwoben, durch welche die Daten ohne merkliche Verzögerung jederzeit an jedem Ort verfügbar waren.

Auf dem kleinen Planeten UH7 der Sonne ZH747449 streckte Ullllu seine Glieder und schaute in die aufgehende Morgensonne. Er dankte Alllla mit einem Überschlag dafür, dass auch heute ein neuer Tag erwachte. Vielleicht hätte er das besser nicht getan, aber das kann man hinterher immer sagen, wenn man weiss, was daraus geworden ist.

Rund um die Erde waren tausende Sonden in eine Umlaufbahn gebracht worden, damit jede Veränderung jederzeit registriert und in den Datenlagern aufbewahrt werden konnte. Einige Sonden wurden auch aus Prestige-Gründen oder aus reiner Daten-Gier ins weitere All geschickt um mehr über das Sonnensystem, die Galaxis und den Urknall zu erfahren. Man drang auch in der anderen Richtung, ins Innere der Materie immer weiter vor, was viel zusätzliches mehr oder weniger Wissenswertes für die Datenlager ergab.

Eine dieser Neugier-Sonden registrierte Ullllu’s Morgenritual und speiste die Daten ins Lager ein. Die Sequenz wurde vom System als unvergleichliches Unikat erkannt, daher sofort analysiert und als sich selbst bewegendes und sich verbal äusserndes Individuum eingestuft. Das System erstellte eine 3-D-Animation inklusive Tonspur und die Banjo-App verteilte die Sequenz in kürzester Zeit an alle Konsumenten und inspirierte die ersten Spassvögel dazu, den Überschlag in der Morgensonne selbst zu machen und ins Netz zu stellen.

Es bildeten sich Gruppen, die zusammen den Sprung in den Morgen ausführten. Es wurden Kurse ausgeschrieben, wo man den korrekten Überschlag sowie den richtigen Gruppen-Überschlag erlernen konnte. In allen Städten und grösseren Orten wurden an geeigneten Orten Morgensonne-Überschlag-Plätze eingerichtet, die laufend vergrössert wurden, weil jeder dabei sein wollte.

Die Wissenschaftler mussten nun die Forschung aufteilen in jene, die sich mit Ulllu als solchem und jene, die sich mit seinen Auswirkungen auf die Konsumenten befasste. Die Konzerne versuchten die Überschlag-Plätze mit Werbung auszustatten, was aber daran scheiterte, dass die reine Ullllu-Lehre jede Ablenkung ablehnte. Es gab bereits Konsumenten, die ihre Kuscheltierchen erst nach dem Überschlag einschalteten, um die Sonne frei von allem anderen begrüssen zu können.

Ullllu wurde zum weltweiten Symbol für die Dankbarkeit der Konsumenten dafür, dass die Sonne nocheinmal für sie aufgegangen war. Schon längst hatten Sie Tag für Tag gelebt aber jetzt taten sie das jeden einzelnen Tag von neuem und mit Freude.

Glückliche Konsumenten kaufen weniger. Die Konzerne registrierten sinkende Zuwachsraten, die Staaten gerieten in Schulden, die Währungen zerfielen und erste Regierungen begannen Ullllu zu verbieten. Dies führte zu einem Aufstand der Konsumenten, dessen Ausgang leider nicht berichtet werden kann, da er noch in vollem Gange ist.

Und was hat das alles jetzt mit meinem Grossvater zu tun? Na ja, auch ich werde langsam alt und verstehe nicht mehr alles, was so abgeht. Und vielleicht muss das ja auch nicht sein. Oder eben: „Ba-Ba-Ba-Ba-Ba“.

3 thoughts on “Grossvaters Kommentar”

  1. Erschreckend oder mindestens beunruhigend: G. Orwells „1984“ lässt grüssen!
    Ich behaupte schon lange, dass nicht die Atombombe für den Zusammenbruch unserer Kultur die grösste Gefahr sein wird, sondern diejenigen, welche die Computerwelt im Griff haben.
    Ich kann mich diesbezüglich nicht adäquat ausdrücken, hoffe aber, dass du verstehst was ich meine. Wenn irgend ein System zusammenbricht, so fliesst auch heute schon kein Wasser mehr (WC-Spülungen also ebenfalls nicht mehr), Strom kann ausfallen; Züge, Flugsicherungen, Kommunikationsmittel, kurz fast alles wird heute komputergesteuert und kann demnach von Hackern angegriffen werden.
    Zu deiner Science-Fiction-Story: Wer weiss , vielleicht bist du ein künftiger Orwell, Huxley, Zelazny, Verne? Ich hatte in den 60er- und 70er-Jahren mit Begeisterung Science Fiction konsumiert und muss heute feststellen, dass diese Autoren beileibe keine irren Fantasten waren.
    Zum Glück sind Facebook etc für mich ein absolutes Tabu, ebenso E-Banking. Trotz alledem wähne ich mich nicht in Sicherheit, denn auch ich bin Google-Konsument und ich weiss, dass ich meine Interessen unfreiwillig mit mir Unbekannten teilen muss. „Nur User“ sein, kann also nicht „harmlos“ sein, leider.

  2. ha drum hüt gwöhnlechi Margge uf Charte und Kuvèr gkläbt…
    aber du kennsch mi ja und weisch wo’s süsch no chnorzet.
    D Aagebot für Simcharte si so gross, dass ig nid weiss, was de jitz für mini Situation ds richtige isch und d Franzose chöi mer’s ou nid säge, jede schickt mi zum nächschte Fachlade und am Schluss loufe n ig mit eme sturme Chopf zrügg uf e Zältplatz und häbe d Füess ufe u schribe ganz normal e Brief. Nume dini Gschicht, die han ig halt scho wölle läse. Voilà, jitz han ig d Bscheerig u drum gits keini Standortmäldige meh. Tschou und merci für dini Orwell-Gschicht. Katharina

  3. Am besten gefällt mir neben der Einführung und dem Vergleich mit deinem Grossvater die Vorstellung, dass es möglich sein sollte, könnte, ist oder sein wird, mich und uns durch die Kamera zu beobachten. Das wäre und ist dann wirklich eine unheimliche und unangenehme Situation.
    Als Konsumenten hätten wir einige Trümpfe in der Hand, ich frage mich aber welche ich selber habe.
    Die Geschichte hat mir gefallen, nachdenklich gestimmt aber sie ist ja auch humor- und somit auch gehaltvoll.
    Und jetzt freue ich mich auf die nächste Geschichte, die ich jetzt soeben lesen werde.
    Aschi

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