Die Wüste lebt!

Ich habe mich gefragt, woher der Gwunderi wohl seine Ideen hat. Vielleicht aus der Schulzeit? Des Gwunderis Lehrer in der Primarschule wurde von allen „Der Albertli“ genannt aber man musste ihm „Herr Lehrer“ sagen. Schauen wir doch da ein bisschen zu.

Der Albertli haut dreimal laut aufs Fensterkreuz. Die Kinder, die „Schwarzer Mann“ gespielt haben, rennen die Treppen hoch, stürzen ins Schulzimmer, und werfen sich zu zweit in ihre Bänke. Die Erst- bis Drittklässler kratzen mit dem Griffel in die Schiefertafeln. Die Viert- bis Sechstklässler klecksen Stöcklirechnungen ins Heft. Bei den Siebent- und Achtklässlern ist Hopfen und Malz verloren.

Der Albertli ist mit der Wandtafel beschäftigt. Ein lautes Knacken. Einer hat mit der Bankklappe eine Nuss geknackt. Der Albertli, der nicht sehr gut hört, versucht den Übeltäter zu lokalisieren, indem er mit leicht gerötetem Kopf durch die Reihen schreitet. Schnell hat ein Viertklässler die Feder in die Tinte getaucht die Spitzen umgeknickt und als der Albertli an ihm vorbei ist, den „Güllenbock“ dem Albertli an sein weisses Mäntelchen gehängt.

Unter der mittleren Reihe beginnt ein kleines Bisi-Bächlein in Richtung Lehrerpult zu fliessen, das von einem Witzbold von Viertklässler stammt. Einer aus der siebten Klasse vergrössert mit seinem Sackmesser das Loch in seiner Eichenholz-Bank, an dem schon frühere Generationen gearbeitet hatten.

Ein ganz normaler Tag im Gesamtschul-Klassenzimmer. Es gab auch aussergewöhnliche Tage. Zweimal im Jahr fand eine Turnstunde statt.

Die Turnstunde im Frühling bestand hauptsächlich aus Weitsprung über den Dohlendeckel des gekiesten Schulhausplatzes. Anlässlich der Turnstunde im Herbst wurden mit gemeinsamen Kräften Holzscheite für den Winter in den Estrich des Schulhauses befördert. Der Albertli und das Fraueli wohnten zuoberst im Schulhaus. Das Fraueli war ein liebes, wurde, soweit sich der Gwunderi erinnern kann, nie geplagt und schenkte nach getaner Arbeit Holunderblüten-Sirup aus.

Im Dachgiebel war eine Rolle für das Zugseil angebracht. Die Schüler machten unten ein Bündel Scheite fest und zogen es mit dem Seil hoch. Oben am Fenster stand der Albertli und nahm das Bündel in Empfang. Wenn ihm das gelang. Manchmal zogen die Buben so unkoordiniert am Seil, dass das Bündel, kurz bevor es in Albertlis Reichweite kam, nach oben schoss, anschlug und die ganzen Scheite wieder am Boden versprangen. Das ärgerte den Albertli und freute die Kinder.

Der Lehrer stand kurz vor der Pensionierung und hatte längst aufgegeben, die Horde von Steinzeit-Menschlein auf den rechten Weg zu bringen. Nur wenn es ihm allzu wild wurde, wehrte er sich manchmal noch. Dann verkündete er zum Beispiel: „Wenn ich eine Million hätte, würde ich keinem von euch einen Rappen geben“. Oder wenn ihm einer aus der Hopfen und Malz Fraktion frech kam, eilte er zum Brünneli hinter der Wandtafel, holte den sechskantigen Oberlicht-Stecken und drohte dem Rüpel, der sich dann hinter der Bankklappe verschanzte und dem Lehrer mit dem Lineal Paroli gab.

Manchmal mussten die Viert- oder Fünftklässler aus dem Lesebuch laut vorlesen. Hier bestand die Herausforderung darin, so oft wie möglich das Zauberwort „Bachhüttli“ in den Text einzuflechten, ohne dass der Lehrer es merkte. Weil er müde und schwerhörig war, reagierte er meist erst, wenn der Schüler aus Übermut das Zauberwort gleich drei- oder viermal hintereinander vorlas. Er blickte dann auf, klopfte mit zwei Fingern auf sein Pult und sagte „Det!“. Und der Vorleser hielt sich einen Satz lang zurück.

Einmal im Jahr kam „Der Fisidator“, dann waren alle brav und der Albertli schnaufte händereibend durch die Zähne. Am Examen kamen Eltern und in der Garderobe warteten die fein duftenden „Examenweggen“ darauf, dass die Schule endlich aus ist.

Der Gwunderi verbrachte in dieser Umgebung die ersten drei Schuljahre und wundert sich heute noch, dass er etwas gelernt hat. Die meiste Zeit verbrachte er damit, Zeichenblätter mit Menschen, Häusern, Bäumen, Strassen, Blumen, Flugzeugen, Panzern und Militärlastwagen zu füllen. Und da er noch klein war und die etwas grösseren Schüler stärker und frecher, lernte er möglichst nicht aufzufallen. Mit dieser Strategie gelang es ihm mit Mühe und Not zu überleben.

Auch der Schulweg war nicht ohne Gefahren. Manchmal tobte der Krieg „Die Hinteren gegen die Vorderen“, dann wurde man verfolgt und gejagt. Dann schaffte es der Gwunderi manchmal seinen kleinen Organismus zu einem Fieberanfall zu überreden, damit er zu Hause bleiben konnte. Verpasst hat er dabei nicht viel, deshalb entschuldigen wir ihn hiermit ein für allemal. Obwohl er immer eher zu den Braven gehört hat, hat er die heldenhaften Episoden der Frechen gerne weiterverbreitet.

Und so kommt es, dass der einzige Witz, den der Gwunderi je erzählen und bis heute im Kopf behalten konnte, natürlich ein makaberer ist:

Drei Männer sitzen beim Feierabendbier. Sagt der Erste: „Lass uns Filme raten“ und beginnt: „Dame in Weiss fährt mit Pferdekutsche durch die Taiga“. Sagt der Zweite: „Dr. Schiwago“. Er macht Schwimmbewegungen und fragt: „Und welcher ist das?“. Sagt der Dritte: „Das letzte Ufer“, zieht die Pistole, erschiesst die hübschere der beiden Serviertöchter und verkündet froh: „Die Wüste lebt“.

3 thoughts on “Die Wüste lebt!”

  1. Wie kostbar wieder, diese wüsten Erinnerungsfetzchen aus dem hinteren Tösstal (nehme ich mal an). Du schreibst wirklich fabelhaft gut, es ist ein Genuss zu lesen.
    Meine Letzewochengeschichte ist auch wüst, doch nicht zu einem Schmunzelwerk geeignet, aber sie loszuwerden tut jedenfalls gut. Da fahren zwei Camper aus der Schweiz, einer breiter und dicker, als der andere, aneinander vorbei und es klepft gewaltig. Der Schock sitzt tief und als das schmalere
    Vehikel endlich zum Stillstand kam, glich der linke Spiegel einem
    herabhängenden blinden Auge. Inzwischen haben Doktoren
    einen neuen Augapfel eingesetzt und einen dickenVerband
    angelegt. Mit diesem improvosierten Provisorium geht es weiter
    Cathérine en route

    Versuche die Verunsicherung nicht Überhand nehmen zu lassen.

  2. Ich konnte mich noch gut daran erinnern dass du in der Sek von „Bachhüttli“ erzählt hast; schon damals fand ich deine Geschichten aus deiner Primarschulzeit amüsant. Und so, wie du sie jetzt erzählst finde ich sie doppelt lustig.
    Am nächsten Donnerstag fliegen wir für 4 Wochen nach Tansania mit meinem Bruder Max. Nebst dem obligaten „Kontrollbesuch“ unserer Schulinfrastrukturprojekte (siehe www. kisimiri.ch) werden wir noch auf Safari gehen und uns an der grossen Vielfalt der Fauna und Flora erfreuen.

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