Ei, Huhn oder Güggel

Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei? Da dieses Problem bis heute nicht abschliessend gelöst ist, obwohl sich ganze Heerscharen von Philosophen, Theologen, Naturwissenschaftlern und in der Saure-Gurken-Zeit auch viele Journalisten aus aller Herren Ländern damit befasst haben, blieb meinem Gwunderi nichts anderes übrig, als sich seine eigene Theorie dazu einfallen zu lassen.

Wenn sonst nichts zu tun war, gingen die Knaben manchmal die nahe gelegene Hühnerfarm besuchen. Sie knabberten auf den verschiedenen Körnern aus dem Hühnerfutter herum und sahen und hörten dem Gepicke und Gegacker der Hühner zu. Mit gebührendem Respekt bewunderten sie den prächtigen Güggel, der offensichtlich der Chef im Hühnerstall war.

Einmal kam dem jungen Gwunderi dabei die Frage in den Sinn, die man dem Lehrer, dem Pfarrer, dem Vater oder wem auch immer stellen konnte, wenn man sie in Verlegenheit bringen wollte. Er hatte darauf sehr unterschiedliche Antworten bekommen wie zum Beispiel: „Frag nicht so was blödes!“ oder „Das Huhn natürlich, da es das Ei erst legen muss.“ oder „Das Ei, weil das Huhn aus dem Ei kommt.“ Er wollte der Sache nun auf den Grund gehen und fand etwas ausführlichere Antworten in der verfügbaren Literatur.

In einem Lexikon:
„Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein galt in der christlichen Welt die Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Mose als weithin akzeptiertes Modell der Entstehung des Lebens auf der Erde. Für die christlichen Kirchen und die meisten Menschen hatte Gott alle Arten von Tieren geschaffen und damit auch die Henne. Nach der Begattung durch den ersten Hahn legte die Henne das erste Ei, aus dem dann der erste Nachwuchs in Form von Hühnerküken schlüpfte. Mit derselben Begründung wurde auch argumentiert, dass Adam und Eva wohl keinen Bauchnabel hatten.“

In der Zeitung:
„Henne-Ei-Problem nach Jahrhunderten gelöst. Forscher sicher: Das Huhn war vor dem Ei da! Britische Forscher kamen dem Rätsel auf die Spur. Entscheidend für die Schalenbildung ist das Protein Ovocledidin-17 (OC-17). Dieses Eiweiß wird in den Eierstöcken der Henne produziert. Es macht die Schale hart und widerstandsfähig. Darum sind die Wissenschaftler nun überzeugt: Es muss zuerst das Huhn gegeben haben. Denn ohne Henne kein OC-17, damit auch keine Schale – also kein Ei.“

In einem Heftli:
„Natürlich war zuerst das Ei da! Evolutionsforscher haben diese Frage längst geklärt. Hühner gehören zu den Vögeln – und die gibt es auf der Erde erst seit rund 150 Millionen Jahren. Eier sind aber unter anderem auch schon von Riesenlibellen vor 300 Millionen Jahren gelegt worden.“

Und dann kam aus dem Libellenei plötzlich ein Huhn mit Bauchnabel heraus? Das war alles nicht überzeugend und da der kleine Gwunderi ein kluger Kerl war, zerlegte er das Problem in seine Einzelteile und fand dabei folgendes:

Das Huhn? Nein! Es könnte auch ein Güggel gewesen sein. Der hätte aber kein Ei legen können. Ende der Geschichte.
Das Ei? Nein! Es hätte auch ein Güggel herauskommen können. Dann wär’s wieder aus gewesen.
Zuerst? Nein! Der Güggel war vielleicht schon da als die Zeit angefangen hatte und weil er so schön krähte, machte der Gott noch ein Huhn für ihn, damit er es bespringen konnte. Für’s Huhn war das glatt zum Eierlegen.

Und so kam er zum praktischen Schluss, dass es erstens so etwas wie einen Gott oder Erschaffer geben musste, der mehr konnte, als die Menschen und zweitens der Güggel das entscheidende Element am ganzen Puzzle war und freute sich ungemein, dass er ein Güggel und kein Huhn war. Und er war ausserdem stolz darauf, dass er das „Henne-Ei-Problem nach Jahrhunderten gelöst“ hatte. Er behielt das Resultat aber für sich und war weiterhin darauf gespannt, was den Erwachsenen zu dem Thema so alles einfiel, wenn er die magische Frage stellte.

Sicher hast auch du deine eigene Lösung zu dieser Frage aller Fragen. Auf deine Antwort bin ich gespannt und bedanke ich mich dafür im voraus herzlich.

Grossvaters Kommentar

Nun ist es soweit. Ich steh‘ da, wo einst mein Grossvater war.

Wir hatten unseren ersten Schwarz-Weiss-Fernseh-Apparat im Nebenstübli eingeschaltet. Der Grossvater schaute herein, rieb sich den Rücken am Türrahmen, schüttelte den Kopf und gab ein verständnisloses Ba-Ba-Ba-Ba-Ba von sich. Er konnte dem Geflimmer und den Geräuschen aus dem Lautsprecher nichts Verständliches entnehmen und zog sich in sein Reich zurück, wo er krumme rostige Nägel gradeklopfen konnte.

Weshalb es mir jetzt auch so geht? Es hat ein paar kleine Sachen gegeben, die mich durcheinander brachten.

Weil ich wissen wollte, weshalb manche jungen Leute freiwillig in den heiligen Krieg ziehen, habe ich mir ein Video des salafistischen Lebensberaters Dipl. Ing. Marcel Krass angesehen. Nach 30 Sekunden passierte es: Eine Welle lief über das Bild und die Tonspur wurde plötzlich von Echo und Hall überlagert. Nach kurzer Zeit dasselbe nochmal und beim dritten Eintreten des Effekts klickte ich die Seite zu und ging eins Rauchen. Ich hatte das Gefühl, dass mich jemand über Laptop-Kamera und Mikrofon ausspioniert. Ich habe mich dann wieder abgeregt und nachgeforscht, ob so etwas überhaupt geht. Es geht. Ich dachte daran, die Kamera-Linse von nun an zu überkleben. Mach ich nicht.
Aber: Wer war das?

Ein paar Tage später: Mein Telefon klingelt. Ich sehe mir wie immer zuerst die Nummer an. 01 und dann noch etwa vier weitere Zahlen. Seltsame Nummer. Ich nehme ab und sage Hallo. Eine Männerstimme in Englisch faselt etwas von Windows-Computer und dass ich ein Problem damit hätte. Ich habe aber keinen Windows-Computer und kann also kein Problem damit haben. Wie in solchen Fällen üblich, kommuniziere ich konsequent in Mundart: „Was isch los?“. Er nimmt mir den Volltrottel nicht ab und wiederholt seinen Text. Ich, wie mein Grossvater: „Ba-Ba-Ba-Ba-Ba“. Er genervt: „Ba-Ba-Ba-Ba-Ba“ hat mich verstanden und hängt auf.
Aber: Wer war das?

Und heute entdecke ich „Banjo“. Der Amerikaner Damien Patton hat die Plattform entwickelt, die selbst erkennt, wo gerade aussergewöhnliches passiert. Sie nutzt dazu all das Zeugs, das die Leute irgendwo hochladen, vergleicht und produziert so die neusten News, ohne dass irgendjemand etwas dazu tun muss. Wer die App hat, weiss sofort, wenn ein Vulkan ausbricht oder Justin Bieber geblitzt wurde, weil immer jemand da ist, der sein Handy zückt. Ende der Tagesschau am gekurvten HD-Farbfernseher. Ende der Pendler-Zeitungen. Ende der grösseren Zusammenhänge. Es lebe der Welt-Weite-Wirbel. Oder Apple-Strudel, falls Banjo auf der iWatch läuft.
Aber: Wohin führt das?

Zeit für etwas Science-Fiction:

Man hatte die Konsumenten dazu gebracht, dass sie Freude daran bekamen, jede noch so kleine Begebenheit ausführlich zu dokumentieren. Dazu benutzten sie die kleinen künstliche Kuscheltierchen, zu denen sie sprechen und die sie streicheln konnten. Diese kommunizierten ständig mit den Datenlagern und so war sichergestellt, dass nichts von mehr oder weniger Bedeutung fehlte.

Die öffentlich zugänglichen Datenlager durften von den Konsumenten befüllt und abgefragt werden. Für manches mussten sich die Konsumenten erst eine Portion Werbung anhören, anderes musste bezahlt werden und wieder anderes war Firmen- oder Staats- oder Geheimdienst-Geheimnis. Der Planet war von einem feinen Netz durchwoben, durch welche die Daten ohne merkliche Verzögerung jederzeit an jedem Ort verfügbar waren.

Auf dem kleinen Planeten UH7 der Sonne ZH747449 streckte Ullllu seine Glieder und schaute in die aufgehende Morgensonne. Er dankte Alllla mit einem Überschlag dafür, dass auch heute ein neuer Tag erwachte. Vielleicht hätte er das besser nicht getan, aber das kann man hinterher immer sagen, wenn man weiss, was daraus geworden ist.

Rund um die Erde waren tausende Sonden in eine Umlaufbahn gebracht worden, damit jede Veränderung jederzeit registriert und in den Datenlagern aufbewahrt werden konnte. Einige Sonden wurden auch aus Prestige-Gründen oder aus reiner Daten-Gier ins weitere All geschickt um mehr über das Sonnensystem, die Galaxis und den Urknall zu erfahren. Man drang auch in der anderen Richtung, ins Innere der Materie immer weiter vor, was viel zusätzliches mehr oder weniger Wissenswertes für die Datenlager ergab.

Eine dieser Neugier-Sonden registrierte Ullllu’s Morgenritual und speiste die Daten ins Lager ein. Die Sequenz wurde vom System als unvergleichliches Unikat erkannt, daher sofort analysiert und als sich selbst bewegendes und sich verbal äusserndes Individuum eingestuft. Das System erstellte eine 3-D-Animation inklusive Tonspur und die Banjo-App verteilte die Sequenz in kürzester Zeit an alle Konsumenten und inspirierte die ersten Spassvögel dazu, den Überschlag in der Morgensonne selbst zu machen und ins Netz zu stellen.

Es bildeten sich Gruppen, die zusammen den Sprung in den Morgen ausführten. Es wurden Kurse ausgeschrieben, wo man den korrekten Überschlag sowie den richtigen Gruppen-Überschlag erlernen konnte. In allen Städten und grösseren Orten wurden an geeigneten Orten Morgensonne-Überschlag-Plätze eingerichtet, die laufend vergrössert wurden, weil jeder dabei sein wollte.

Die Wissenschaftler mussten nun die Forschung aufteilen in jene, die sich mit Ulllu als solchem und jene, die sich mit seinen Auswirkungen auf die Konsumenten befasste. Die Konzerne versuchten die Überschlag-Plätze mit Werbung auszustatten, was aber daran scheiterte, dass die reine Ullllu-Lehre jede Ablenkung ablehnte. Es gab bereits Konsumenten, die ihre Kuscheltierchen erst nach dem Überschlag einschalteten, um die Sonne frei von allem anderen begrüssen zu können.

Ullllu wurde zum weltweiten Symbol für die Dankbarkeit der Konsumenten dafür, dass die Sonne nocheinmal für sie aufgegangen war. Schon längst hatten Sie Tag für Tag gelebt aber jetzt taten sie das jeden einzelnen Tag von neuem und mit Freude.

Glückliche Konsumenten kaufen weniger. Die Konzerne registrierten sinkende Zuwachsraten, die Staaten gerieten in Schulden, die Währungen zerfielen und erste Regierungen begannen Ullllu zu verbieten. Dies führte zu einem Aufstand der Konsumenten, dessen Ausgang leider nicht berichtet werden kann, da er noch in vollem Gange ist.

Und was hat das alles jetzt mit meinem Grossvater zu tun? Na ja, auch ich werde langsam alt und verstehe nicht mehr alles, was so abgeht. Und vielleicht muss das ja auch nicht sein. Oder eben: „Ba-Ba-Ba-Ba-Ba“.

Gemeinstein aufs Köpfchen

Nun wird es Zeit, der Hauptperson meiner Geschichten einen Namen zu geben. Ich nenne ihn ab jetzt den Gwunderi. Du wirst mir sicher zustimmen, dass das für einen viereinhalb Jahre alten Knirps ein treffender Name ist. Ich habe weder vor, chronologisch über seine Abenteuer zu berichten, noch, falls er tatsächlich gelebt haben sollte, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen. Damit du also immer weisst, von wem ich rede, ist er auch mit kleinen Beinchen und Füsschen schon mein Gwunderi.

Er hatte früh beschlossen, den Sachen auf den Grund zu gehen und wie schon gesagt, den Rest der Welt zu entdecken und zu erobern.

Der Rest der Welt bestand zunächst einmal aus dem Dörflein, wo der Kleine und seine Familie wohnten. Es lag in einer Schleife des steinigen Baches, zwischen zwei Brücken mit soliden Geländern. Es bestand aus sechs Wohnhäusern, der Sägerei des Grossvaters und dem Spritzenhaus mit Uhr und Glocke. Ennet der hinteren Brücke stand die Scheune mit Mutters Geissenstall und dem Heustock für den Winter. Jenseits der vorderen Brücke waren die Bretter aus Grossvaters Sägerei sorgfältig zum Trocknen aufgeschichtet. Getrennt durch kleine Stäbe lagen da wieder die ganzen Tannen, einfach mit Luft dazwischen. Mit dem Rolli konnte er die gesägten Baumstämme über das Geleise, das hoch über dem Bach auf einer Holzkonstruktion befestigt war, zum Holzlager transportieren.

Die Naturstrasse, die zwischen den beiden Brücken in einer sanften Kurve mitten durchs Dorf führte, war meist frei von Verkehr. Am Morgen und am Abend die fünf oder sechs Kühe des Nachbars. Am Abend der Peugeot-Pickup des Käsers, der laut hupte, die Milch abholte, verkaufte und den grössten Teil zum Verkäsen nach Hause fuhr. Manchmal ein Pferdefuhrwerk mit Säcken voll Hühnerfutter, der Volvo des Tierarztes oder der Lastwagen eines Händlers der Gemüse und Früchte anbot. Oder der Heiri, der mit dem einrädrigen Graskarren das Futter für seine Kaninchen nach Hause fuhr.

Der kleine Welt-Eroberer war inzwischen viereinhalb Jahre alt geworden. Am Bach unter der Brücke versuchte er das Wasser umzuleiten, indem er von Hand grössere Steine umschichtete und mit einem Stecken einen Graben durch die kleinen runden Kiesel zog. Er war vollständig in seine Arbeit vertieft, als ihn ein Stein auf dem Kopf traf. Oben auf der Brücke stand der kleine Bruder und schaute zu ihm hinunter. Es war kein kleiner Stein gewesen, auch kein grosser, ein anständiger halt. Es hätte auch ein grösserer sein können. Das hätte sehr gefährlich sein können. Das war eine Gemeinheit des kleinen Bruders gegen ihn. Soviel wurde ihm klar.

Ihm war auch klar, dass die Mutter den kleinen Bruder in Schutz nehmen würde, wenn er ihn zum Weinen brachte. Und er würde täderlen. Und dann bekam er Schimpfis oder Schlimmeres. Er überlegte und da er beobachtet hatte, dass sein grösserer Bruder, der bereits in die Schule ging, sich schon manchmal über den Kleinen geärgert hatte: “Er macht mir immer alles kaputt!”, lief er zum grossen Bruder und klagte über den kleinen: “Er hat mir extra einen Stein auf den Kopf fallen lassen!”. Wie geplant, nutzte der Grosse die Gelegenheit und haute dem Kleinen eins, der rannte weinend zur Mutter: “Er hat mich gehauen!”.

Der Grosse bekam Schimpfis und eine Flatter und bezog so die Strafe dafür, dass er schon grösser und trotzdem noch nicht vernünftig war.

Du siehst, dass nicht immer für alle etwas Gutes dabei herauskommt, wenn einer nachgedacht hat. Das Böse ist ein Kind des Rechnens und Denkens und von Eigennutz und Feigheit noch dazu.

Bis zum heutigen Tag hat der Gwunderi diese Episode nicht vergessen und ist nach und nach zur Überzeugung gelangt, das die wahre Gemeinheit sein feiger Plan und nicht die unschuldige Tat des Kleinen gewesen war.

Weil uns hier das Böse leicht gestreift hat, habe ich gegoogelt und mir selbst ein paar Gedanken über das Böse gemacht:

Das Böse ist zuallererst einmal ein Wort. Althochdeutsch: bôsi von germanisch: bausja. Sein Klang ruft in uns sofort eine erhöhte Aufmerksamkeit hervor. Es warnt: Pass auf! Das ist nicht gut! Das ist schlecht! Das ist falsch! Es kann etwas passieren, was du nicht willst. Tu das nicht. Lass die Finger davon. Es weckt Erinnerungen an schlechte Gefühle, an erlittene Qualen, an schon erlebte Schrecken und Strafen.

Das Böse ist übel und schlecht aber schlechtes oder übles muss nicht böse sein. Eine schlechte Ernte ist nicht böse. Eine üble Angewohnheit muss nicht böse sein. Werwölfe, Vampire, und Dämonen sind nur Symbole für das Böse. Einzig die Taten von Menschen können böse sein. Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu.

Naja soo böse war die Gemeinheit des kleinen Gwunderi nun auch wieder nicht. Aber gemein war das schon. Wir werden sehen, wieviel Macht der Teufel bei anderen Gelegenheiten über unseren Helden noch bekommt.

Etwas aus Nichts

Als kleiner Bub war ich fasziniert davon, wie Robert Lips seinen Helden zum Leben erweckt hat. Die Kinder öffnen beim schlafenden Seemann eine Schachtel, darin liegt eine Feder, die fliegt von selbst zur Staffelei und zeichnet, wie von Geisterhand geführt, den Globi. Die Kinder wecken den Seemann auf und der träufelt ein geheimnisvolles Lebenselixier auf die fertige Zeichnung, worauf Globi aus dem Papier in die Welt tritt und sich wundert.

Und deshalb beginnt die Geschichte meines Helden nun auch ganz am Anfang. Sicher bist auch du der Meinung, dass man nicht immer bei Adam und Eva beginnen soll. Diese Geschichte beginnt noch viel vorher, quasi am Anfang vom Anfang vom Anfang …

… Es war tiefe, stille, dunkle, schwarze Nacht. Das Nichts war überall und überall war das Nichts. Es hatte keinen Anfang und kein Ende. Es hatte keinen Körper und keine Seele. Es war alles und nichts. Es war nicht fest, nicht flüssig, nicht gasförmig und nicht plasmatisch. Das Nichts war da und herrschte über sich selbst. Es wusste nichts. Es wollte nichts. Es hatte nichts. Es konnte nichts. So war es immer gewesen und so würde es immer sein …

War das jetzt so schlimm? Vielleicht weisst du nicht was „plasmatisch“ bedeutet. Ich weiss das auch erst seit heute: Es ist ein vierter Aggregatszustand. Unsere liebe Sonne zum Beispiel, sie ist weder fest noch flüssig noch gasförmig, aber eben plasmatisch.

Und jetzt nimmt die Geschichte eine überraschende Wendung:

Doch – da war etwas. Es war eins. Das Nichts zog sich zurück. Ein Puls war da. Es war Leben. Es war sein Leben. Es nahm Bewegung war. Veränderung. Jeder Pulsschlag war anders. Wogen kamen und gingen. Es begann mit den Wellen zu fliessen. Die Wogen zu ahnen. Zu vergleichen. Es wurde. Es wuchs. Es war eins und doch nicht allein. Ausser ihm gab es noch eins. Da drin zu sein war gut. Es horchte, es träumte, es bewegte sich. Es wurde grösser und schwerer. Es konnte tasten und strampeln. Das Aussen wurde enger. Es wurde Zeit. Es war soweit. Es musste hinaus. Aber da war kein Ausgang, es lag verkehrt herum.

Unter grosser Anstrengung drehte es sich. Auch das Aussen wollte, dass es heraus kam. Beide wollten es. Alles wollte es. Das Tor war eng und öffnete sich nicht von selbst. Es brauchte Zeit und Willen und Kraft. Nach vielen Anläufen blieb es stecken. Es ging weder vor noch zurück und grosse Angst packte seine Seele. Wenn die Grenze des Ertragbaren überschritten würde, würde es sterben und das Nichts würde zurückkehren. Dann gab die Pforte endlich nach und alles war plötzlich hell und laut und kalt und neu. Dann lag das Neugeborene bei seiner Mutter, die auch erschöpft und glücklich war.

So war das Menschlein auf die Welt gekommen, auf der seine Mutter schon eine Weile gelebt hatte. Gerade hatte ein schrecklicher Krieg alles Leben bedroht. Er hatte sich nun in die Ferne verzogen und es galt wieder aufzubauen, was er zerstört hatte. Aber Kinder waren Hoffnung und gaben neue Kraft und so wurde der Kleine willkommen geheissen in einer Welt, die aus Ängsten, Hoffnungen, Traditionen, Fleiss und Arbeit bestand.

Der Kleine genoss die Nähe seiner vertrauten Mutter, wenn sie bei ihm war. Er lebte im Spiel von Lichtern, Schatten und Geräuschen. Er nahm in den Mund, was er zu fassen bekam und am liebsten war ihm die Mutterbrust. Wenn das Nichts zurückkommen wollte schrie er so laut er konnte, bis die Mutter kam oder er vor Erschöpfung einschlief. Er spürte, dass er ein Ereignis war, dass man ihn wollte und ihm gut gesinnt war. Vogelgezwitscher, Holztreppenknarren, Türenquietschen, Kindergetrappel, Miauen, Brunnengeplätscher, Ziegengemecker, Rufe und Glockengeläute tönten vertraut in seine von Vorhängen, Decken, Kissen und Windeln umgebene Welt.

Er lernte den grösseren Bruder und seinen noch viel grösseren Vater kennen. Der warf ihn manchmal hoch in die Luft und fing ihn lachend wieder auf. Dann quietschte er vor Vergnügen. Es kam der erste Winter und statt Vogelgezwitscher kamen Krähengekrächze, Ofengescharre, Schneeschaufelgeknatter, Gesang und Klavierklänge. Wenn der Vater zuhause war, baute er im Estrich an der elektrischen Eisenbahn. Die Mutter kochte, putzte, nähte, strickte, heizte und fütterte ihre Kinder und Ziegen.

Die Welt des Kleinen wurde immer grösser. Er trohnte jetzt am Tisch auf dem Hochstuhl mit dem eingebauten Tablar für das Häfeli und dem Loch in der Sitzfläche. Von hier aus versuchte er zum ersten Mal die Weltherrschaft zu erlangen. Das misslang aber gründlich, da man dem kleinen Hosenscheisser zu wenig Respekt entgegenbrachte. Zuerst war er beleidigt, aber nur für kurze Zeit. Dann verschob er die Machtübernahme auf später und beschränkte sich darauf die Verhältnisse zu studieren. Er eiferte seinem grösseren Bruder nach, der ihm weit überlegen und den zu überflügeln sein erstes Ziel war.

Bald geriet die ganze Welt für eine Weile völlig aus dem Gleis und dann war ein kleines Brüderlein da, um welches sich die Mutter von nun an am meisten kümmerte. Damit war der Zweijährige kampflos und ohne Anstrengung eine Stufe aufgestiegen und das war ein gutes Gefühl. Dadurch, dass die Mutter viel mit dem Kleinsten beschäftigt war und weil er selbst schon gehen und sprechen konnte, war es höchste Zeit, zusammen mit seinem grösseren Bruder den Rest der Welt zu entdecken und erobern.

Wie du sehen kannst, hatte der Kleine keinen schlechten Start. Das war aber nur der Anfang, viele kleinere und grössere Freuden und Leiden warteten nur darauf ihn in ihre Fänge zu nehmen. Davon berichte ich dann das nächste Mal.

Dölfi und der Meisenvogel

Es ist mir klar, dass ich, wenn ich hier versuche, dir diesen Text schmackhaft zu machen, nichts weiteres tue, als Zeichen und Leerschläge so anzuordnen, dass du darin etwas zu finden hoffst, was dich unterhält oder auf andere Gedanken bringt oder vielleicht zu neuen Erkentnissen führt oder in alten bestätigt.

Da fällt mir ein, dass direkte Rede näher am Gespräch und kurze Sätze leichter verdaulich sind. Sei’s drum. “Du bist der Leser” sage ich und “Ich bin der Schwätzer”.
“Also schwatz kein Blech” denkst du vielleicht und ich entgegne “Das ist Ansichtssache”.

Bist du noch da?

Du kannst jetzt aufhören weiterzulesen, dann musst du dir aber etwas anderes einfallen lassen, womit du deine Zeit vertust.

Da ist ein warmer Sommertag, ein plätscherndes Bächlein, eine Blumenwiese und meine nackten kleinen Füsslein, die ich staunend betaste. Das Glück.

Ganz allein im Schatten eines Apfelbaums die Angst, dass eine verfuchtelte Wespe plötzlich ihre ganze Sippe auf mich hetzt. Die Panik.

“Mir ist langweilig, ich habe Hunger” habe ich oft von Kindern gehört. Das bedeutet, dass ihnen selber nichts mehr einfällt und sich jemand um sie kümmern soll. Dafür sind Geschichten da. Oder Schoggistängeli. Aber die bestehen nicht aus Zeichen und Leerschlägen.

Bist du immer noch da?

Also dann, die Geschichte. Sie ist so alt wie die Menschheit und so jung wie die Sekunde, die eben begonnen hat. Sie passiert und du bist schon mittendrin.

Wie jeden Morgen war die Welt gerade erst erschaffen worden. Heute hatte das die Sonne gemacht. Das freute die Amseln und Meisen und Finken und Spatzen und Schwalben.

Der Kleine brauchte keine Strümpfe oder Socken. Er freute sich über die Freiheit seiner nackten Füsschen und probierte damit alle möglichen Erscheinungsformen der Erdoberfläche aus. Feuchte Erde, die zwischen den Zehen hochquillt, spitze Kiesel, die brennen, wie heisse Kohle, das kühle fliessende Wasser im Bach, der heisse weiche Teer auf der Strasse, das feine kühle Gras der Wiese.

Er wusste noch nicht, dass er das alles eines Tages gegen das ABC, die Quadratwurzel, die Schlacht am Morgarten, und alle anderen sinnlosen Bemühungen seiner Spezies, den Gipfel der Erkenntnis zu erklimmen, auf nimmerwiedersehen einzutauschen hatte. Und das war gut so.

Alle anderen um ihn herum hatten ihre Pläne und so wurde der Kleine gerufen und auf den Heuwagen gehievt, damit man ihn beim Zusammenrechen und Aufladen nicht allzusehr aus den Augen verliere. Das Heu wurde gebraucht, um die 3 Ziegen über den nächsten Winter zu bringen und da er noch zu klein zum Helfen war und den Grossen nur im Weg herumstand, wurde er unter dem Apfelbaum beim Zvierikorb abgestellt. “Bleib da, es dauert nicht lang” sagte die Mutter, ging davon und wurde kleiner, bis sie so klein war, wie die anderen, die mitmachen durften.

Natürlich hatte die Mutter keine Ahnung davon wie lange “nicht lang” sein kann, wenn man nicht dabei sein darf. Und so blieb dem Kleinen nichts anderes übrig, als, wenn er “bleib da” einhalten wollte, den neben ihm im Gras abgestellten Zvierikorb zu untersuchen.

Genau das hatte sich zur selben Zeit auch eine Wespe vorgenommen. Angelockt durch die unverkennbar essbare Dinge verkündenden Düfte, die durch die warme Nachmittagsluft zogen, folgte die Wespe der Fährte, die mal hier mal da, mal vor mal zurück stets ein bisschen näher zum Schlaraffenland führte.

Unglücklicherweise war das Schlaraffenland ein sehr kleines Land und so mussten die beiden, die sich dafür interessierten, unausweichlich aufeinandertreffen. Dem Kleinen gefielen das nervöse Gesumm und die gefährlichen Farben der Wespe gar nicht und so schlug er mit seinen Ärmchen, Händchen, Beinchen und Füsschen wild um sich. Dabei stupste ein Händchen zufällig die Wespe, die sich sogleich verwirrt davonmachte.

Verblüfft über seinen schnellen Sieg, dachte der Kleine näher über die Wespe nach. Sofort kam ihm “Wespennest” in den Sinn und die grossen Augen seiner Geschwister, wenn sie dieses Wort sagten. Die Angst, die in ihm hochkroch, entlockte seiner Fantasie die schlimmsten Befürchtungen. “Sie fliegt nach Hause, erzählt alles den anderen und dann fällt der ganze Schwarm über mich her” redete ihm sein Gewissen ein. Er fühlte sich schuldig und allein und hilflos in grösster Gefahr.

Apfelbaum und Zvierikorb und Sonne und alles andere um ihn herum waren spurlos verschwunden. Auch diese Welt war gerade erst erschaffen worden und sie war voller Angst und Schrecken und sonst gar nichts. In seinem ganzen Leben würde er nie wieder vergessen, dass aus heiterstem Himmel die schwärzeste Nacht werden kann. Er schrie los, so laut er konnte und das bedeutete, dass ihm selber nichts mehr einfiel und sich jemand um ihn kümmern solle.

Da für die meisten Mütter das Wohl ihrer Kinder über dem Gipfel der Erkenntnis steht, kam statt des Wespenschwarms sie, in die er wieder hineinkriechen konnte, wenn die Welt da draussen aussah wie ein Höllenhund, der im Dunkeln sieht und alles frisst, was ihm über den Weg läuft. Er kroch hinein und blieb so lange dort, bis eine neue Welt kam, die etwas Hoffnung aufkeimen liess und mit Licht und Farbe die alte verblassen liess und zu den dunklen Erinnerungen schob.

Wenn nun jemand behauptet, der Kleine habe noch nicht viel von der Welt gesehen, dann sollte er sich schämen, das so gedankenlos daherzusagen. Die hellste und die dunkelste hat der Kleine schon gesehen. Was noch kommt, sind Zwischentöne, aber nichts, was schlimmer oder besser ist.

Ein kleiner Meisenvogel ist vor mein Fenster geflattert. Mit seinem Schnabel hat er an die Scheibe geklopft. Will er herein? Warum sollte er? Kommt er wieder? Meint er mich? Ich glaube, er wollte mir sagen, dass er die Wespe aus der Geschichte gepickt hat.

Und das kam so:

Ob du’s nun glaubst oder nicht, durch den kurzen, heftigen Schlag, den die Wespe abbekommen hatte, hatte eine neue Wespenwelt ihren Urknall. Und sie begann sich auszudehnen, so wie das alle neuen Welten nun einmal tun. Aus Angst und Schrecken spritzte die Wespe ihr Gift sinnlos in die neue Welt hinein und damit war diese schon vergiftet, bevor sie überhaupt das erste kleine Düftchen entwickelte.

Weil diese Wespe jetzt unsere ist braucht sie endlich einen Namen. Wäre sie eine Biene, könnten wir sie Maja nennen. Weil sie aber männlichen Geschlechts ist und es ihr gerade nicht so gut geht, nenne ich sie Dölfi. Dölfi floh solange er konnte und überliess sich seinem Schicksal erst, als er nicht mehr anders konnte.

Sein Schicksal war nass und roch nach nichts und auf dem kleinen Weiher schwamm ein dünner Strohhalm, was Dölfi aber nicht wissen konnte, weil er diese Worte nicht kannte. Trotzdem klammerte er sich mit seiner letzten Kraft daran fest. Er hatte keine Hoffnung, dass seine Mutter, die Wespenkönigin, ihn retten könnte, weil Wespenköniginnen das Wespennest nicht verlassen dürfen, solange sie noch ein Volk haben.

Am Strohhalm war noch ein schmales dürres Blättchen dran und das bot dem frischen Wind in der neuen Wespenwelt ein kleines bisschen Widerstand. So schipperte der Halm mit seiner Fracht ans sonnenseitige Ufer. Dölfi spürte etwas neue Kraft in seinem Körper fliessen. Sofort versuchte er sein Schicksal loszuwerden indem er anfing, seine schweren, nassen Flügel in Bewegung zu versetzen.

Das kleine Mädchen hatte schon länger den Rossköpfen zugeschaut, wie sie so hin und her und auf und ab schwammen. Mit seinen kleinen Händchen hatte es versucht einen zu fangen um ihn näher bei sich haben zu können. Da fiel sein Blick auf den Strohhalm mit Dölfi, der sich mit seinen nassen Flügeln abmühte. Erstens ist es schön, wenn man Leben retten kann und zweites war Dölfi leichtere Beute, als die putzmunteren Rossköpfe. Ganz behutsam zog es den Strohhalm aus dem Wasser und streifte Dölfi vorsichtig auf einem trockenen Kleeblatt ab. Dann hoffte es auf ein Wunder.

Es war ein vierblättriges Kleeblatt und stand in der Sonne. Dölfi fühlte sich zunehmend besser und sein Wespenkörper begann in seinen Wespenfarben zu strahlen. Ins kleine Mädchen schlichen sich Zweifel, ob es klug gewesen sei, das gefährliche Wesen zu retten. Es ging nicht davon aus, dass Dölfi vielleich dankbar sein könnte, dass es ihn gerettet hatte. Es dachte etwas verwirrt über die Welt nach und beschloss woanders einen Wiesenstrauss zu pflücken.

Dölfi versuchte sich zu orientieren, fand Gerüche von essbaren Dingen in der Luft und machte sich an die Arbeit. Nach diesem soeben erfolgreich überstandenen Abenteuer wollte er eine junge Königin suchen, die dann seinen Ruhm in Form eines von ihm stammenden Wespenvolkes weit in die Zukunft tragen würde.

Der neugeborene Held und zukünftige Stammvater eines Heldenvolkes strahlte heller als die Nachmittagssonne, so hell, dass mein Meisenvogel nicht daran vorbeisehen konnte. Er zog den Hut, sagte “Hallo” und – verpickt und verputzt – war Dölfi ins untere Ende der Nahrungskette abgestürzt.

Weil der Meisenvogel unbedingt jemandem von seinem Jahrhundertfang erzählen musste und er schon beobachtet hatte, dass ich mich den ganzen Tag mit Zeichen und Leerschlägen beschäftige, dachte er sich, wenn ich dem das erzähle, komme ich in seine Buchstaben hinein und werde berühmt.

Bist du jetzt immer noch da?

Dann hast du dir schön was aufgeladen. Da es nun nichts wird mit dem Wespen-Heldenvolk und Dölfi und der Meisenvogel nur in diese kleine Geschichte eingegangen sind, aber nach höheren Ehren streben, solltest du, falls du ihnen und mir den Gefallen tun möchtest, meine Geschichte weiterempfehlen, damit sie in allen Welten bekannt und nie wieder vergessen werde.