Des Gwunderis Prinzessin

Als die Prinzessin dem Gwunderi das erste Mal über den Weg lief, war er etwa dreizehn Jahre alt und mit dem Velo auf dem Heimweg von der Sekundarschule. Die Prinzessin war damals vielleicht drei oder vier und hüpfte mit ihren blonden Haaren in der goldenen Abendsonne über die Strasse. Er dachte, er hätte gerade einen kleinen Engel gesehen und das Bild setzte sich in allen froh gestimmten Zellen seines Gedankennetzes fest. Und da ist es bis heute geblieben.

Vielleicht ein Jahr später, er konnte mir das nicht mehr so genau sagen, traf der Gwunderi die Prinzessin zum zweiten Mal an. An der Töss, beim Toni, konnte man im Sommer wunderbar baden und danach ins Gras liegen und den vorbeiziehenden Schönwetter-Wolken zusehen. Die Prinzessin hatte inzwischen altersmässig zu ihm aufgeholt und dunkle Haare bekommen. Sie lag beim Wolkengucken neben dem Gwunderi und liess ein kleines Kind über ihren Bauch rollen. Rauf und runter, hin und her. Und auch dieses Bild wollte dem Gwunderi nicht wieder aus dem Kopf gehen.

Zwei Jahre darauf traf er die Prinzessin erneut. Sie sprach plötzlich Schaffhauser-Dialekt, war Serviertochter in Gwunderis Lieblings-Café und war ein paar Jahre älter als er. Über den Mitstift, der auch aus dem Schaffhausischen kam, besorgte sich der überaus schüchterne Gwunderi ein kleines Föteli der Prinzessin und heftete es neben seinem Bett mit einem Reissnagel an die Wand. Er war überglücklich, wenn sie ihn freundlich ansah und ihm den bestellten Zmittag-Hotdog in die Hand drückte.

Als er etwa achtzehn Jahre alt war, hatte er eine Ein-Zimmer-WG in seinem Lieblings-Café, die Prinzessin war wieder etwas jünger geworden und ihr Lippenstift schmeckte unwiderstehlich nach Veilchen oder Flieder. Als sie mit ihren Eltern in die Sommerferien fuhr, schrieb er seinen ersten Liebesbrief und bekam eine Antwort, die vieles offen liess. Und den Gwunderi hoffen liess.

Mit neunzehn mit dem Keyboarder seiner Band im hochsommerlich heissen Sizilien auf dem Campingplatz unterhalb des Ätna erschien sie für ein paar Augenblicke im Leoparden-Bikini als Tochter von deutschen Touristen. Das hatte zur Folge, dass der Gwunderi den gesamten Rest der Sommerferien tagsüber die Augen geschlossen hielt und nachts so lange sehnsüchtig in die Sterne blickte, bis es zu kalt wurde und er in seinen Schlafsack kriechen musste.

Du denkst bestimmt, jetzt reicht’s dann mit den ewigen Verwandlungskünsten. Weit gefehlt. Es gibt noch viel, viel mehr zu berichten.

Der Gwunderi hat sich selbst nie für einen Prinzen gehalten und auch sonst keine Prinzen angetroffen. Und trotzdem hat er sein Leben lang nach der Prinzessin Ausschau gehalten. Vielleicht war das ein Fehler. Vielleicht hatte er zu viele Bücher gelesen und zuviele Filme gesehen. Wie dem auch sei, gegen seine Gefühle ist der Mensch machtlos, auch wenn sie sich an den Realitäten vorbei im eigenen Irrgarten verlaufen.

Erstaunlicherweise gab die Prinzessin niemals auf. In unregelmässigen Abständen versuchte sie in den unterschiedlichsten Erscheinungsformen den Gwunderi zur Vernunft zu bringen. Dazwischen fühlte er sich oft sehr einsam. Einmal, nach einer wunderbaren ersten Nacht mit der Prinzessin, war er unendlich glücklich und traurig zur gleichen Zeit. Schöner konnte es unmöglich werden. Also musste es weniger schön werden. Also besser allein bleiben? Oder gemeinsam ein anderes Glück finden?

Wenn du ein bisschen etwas von den Menschen verstehst, fragst du dich jetzt sicher, ob dem Gwunderi nie in den Sinn gekommen ist, seiner Prinzessin das Diadem vom Köpfchen zu nehmen und ihm das Sternenkleidchen auszuziehen. Als ich ihn darauf angesprochen habe, konnte er mir diese Frage nicht beantworten. Er meinte nur, dass es vielleicht die falsche Entscheidung gewesen war, als er beschloss, sich kurz vor der Geburt doch noch umzudrehen und mit dem Kopf voran in diese Welt zu kommen.

Diese Entscheidung hat viele Tränen und auch viel Glück gebracht und wie sagt der Fussballer beim Interview nach dem Spiel immer und jedesmal: „Wir müssen vorwärts schauen!“. Und wenn er verloren hat, sagt er auch noch: „Analysieren“. Und was mache ich denn gerade anderes, wenn ich des Gwunderis Prinzessin nachsinne?

Die Prinzessin hat alles gegeben: Sie hat ihm Vertrauen geschenkt, sie hat ihm Kinder geschenkt, sie hat ihm Freude geschenkt, sie hat ihn geliebt. Und was hat sie dafür bekommen? Bewunderung, Verständnis, Vertrautheit, Zuverlässigkeit, Vernunft und andere langweilige Dinge. Hart aber fair. Der Gwunderi hat verloren. Er hat mich gebeten auszurichten, dass er sich bei allen entschuldigt, die durch ihn zu leiden hatten.

Die Prinzessin darf sich jetzt für hundert Jahre hinter das undurchdringliche Rosengestrüpp zurückziehen und ausschlafen. Und wenn sie Lust hat, darf sie auch vom Prinzen träumen, aber nur solange, bis sie wieder aufgewacht ist.

Baustelle im Kopf

Es soll ja Leute geben, die machen sich in der Pubertät ein Bild von der Welt und halten daran fest, bis sie diese endgültig verlassen. Beim Gwunderi war das nicht so. Hineingeboren in eine Welt aus Wiesen, Wäldern, Bächen, Tieren und eine überschaubare Anzahl von grundverschiedenen Menschen zog er in die nahegelegene kleine Industriestadt um einen gescheiten Beruf zu erlernen.

Und schon erfuhr er zum ersten Mal, dass die „Guten“ zu den „Bösen“ werden können und die „Bösen“ zu den „Guten“. Natürlich schlug er sich wenn möglich auf die Seite der „Guten“, was aber verständlicherweise schwierig ist, wenn diese sporadisch die Farbe wechseln. Es dauerte seine Zeit, bis er zum Beispiel die sehr respektablen Herren Vorgesetzten in seinem Weltbild an die Stelle gerückt hatte, die sie als Schinder, Tüpflischiisser und Menschenverachter verdient hatten.

Aus Protest liess er sich die Haare lang wachsen und trieb sich in seiner Freizeit mit zwielichtigen Musikanten und Revoluzzern herum, die sich aber als gute Kameraden und inspirierende Bewohner von Oasen der Menschlichkeit entpuppten. Dann kamen die Drogen und eines Nachts stand der Gwunderi allein auf dem Asphalt der Stadt in der LSD erfunden worden war und sah vor sich das Höllenfeuer aus dem Pflaster steigen. Der Gwunderi wurde ein Anderer und von dem Tag an hatte er keine Angst mehr vor dem Tod.

Die Zeit verging und sein erstes Kind kam zur Welt. Über Verantwortung hatte er sich bis dahin keine Gedanken gemacht. Arbeitest du, bekommst du Lohn und wenn du nicht mehr ausgibst, als du bekommst, hast du keine Probleme. Schlagartig wurde ihm klar, dass nicht der Staat und nicht der liebe Gott und auch kein anderer Mensch ihm und seiner Frau die Verantwortung für das neue Menschenkind abnehmen würden. Es lag an ihnen ganz allein.

Er wollte nun für die junge Familie sorgen und fand eine höchst interessante Stelle in einem Beruf, den es bisher noch nicht gegeben hatte. Er wurde einer der ersten drei Computergrafiker im ganzen Land und keiner wusste, wie das funktionierte. Der rastlose Fototechnik-Unternehmer, der die Stelle ausgeschrieben hatte, hatte in den USA die europaweit erste Anlage bestellt, die ab digitalen Daten Grafiken auf Dias belichten konnte. Die Belichtungseinheit allein füllte einen ganzen Büroraum und die zwei Workstations für die Erstellung der Grafiken einen zweiten. Zwei Amerikaner instruierten die drei absoluten Computerneulinge auf amerikanisch, was so gut wie nichts brachte.

Der Gwunderi, der bisher mit realen Dingen wie Bleiklötzli, Karton, Folie, Klebstoff, Fotopapier und anderem gearbeitet hatte, trat in die virtuelle Welt der digitalen Datenverarbeitung ein. Es fühlte sich an wie Zellteilung: Plopp-Aha-Plopp-Plopp-Aha und so weiter. Ein neues Denken wurde geboren. Zum Beispiel ein Kreisdiagramm mit drei Segmenten zu 10%, 30% und 60%: Tastatur mit Funktionstasten, Begin Sequence, New Figure, Color 30, Type Circle, Origin 84/54, Start 0, End 36, End Sequence. Es erscheint ein grünes Kreissegment am Bildschirm. Das Schritt-für-Schritt-Ding in der vorgegebenen Reihenfolge, bin ich denn selber ein Roboter, oder was?

Hatte der Gwunderi früher hauptsächlich mit den Tücken der unterschiedlichsten Objekte zu kämpfen gehabt, unterlag jetzt plötzlich alles der reinen, nackten, kalten Zahlenlogik. Es gab im Ganzen 36 Farben, 3 Figurtypen und dann noch Koordinaten und Schriftarten und Schriftgrössen. Wenn er nach einem überstandenen Arbeitstag im Zug nach Hause fuhr, passierte ihm häufig dieses Plopp-Aha-Plopp-Ding und mit der Zeit bekam er Schwierigkeiten mit den Emotionalitäten der Mitmenschen, die noch in ihrer irrationalen realen Welt gefangen waren.

Lange Zeit ist der Gwunderi der virtuellen digitalen Welt treu geblieben. Als er dann wegen fortgeschrittenen Alters in den Ruhestand geriet, hatte sich diese neue Welt überall breitgemacht. Selbst die Frauen, die sich lange dagegen gewehrt hatten, hatte sie sich zu Untertaninnen gemacht, indem sie sich als Schnädertante verkleidete. Die weltweite Verbreitung des Internets schuf eine völlig neue Welt, in der jederzeit überall alles zur Verfügung stand. Jedenfalls alles virtuelle. Wasser und Nahrung waren noch nicht virtuell und standen nicht jederzeit und überall zur Verfügung und daran hatte wahrscheinlich keiner gedacht oder so.

Und so wollte der Gwunderi halt wissen, woher dieser Fehler im System kommt. Und wenn man heutzutage etwas wissen will, fragt man Google. Und wiedereinmal musste der Gwunderi nach wochenlangen Recherchen sein Weltbild komplett über den Haufen werfen. Er hat nämlich folgendes dabei herausgefunden: Die virtuelle Welt greift nach den Sternen, die reale Welt verabschiedet sich von den Menschen, die Reichen und Mächtigen wollen noch mehr Reichtum und Macht und die übrigen haben Wünsche und Hoffnungen oder keine mehr.

Ich will mich jetzt nicht lange über die Illuminati, NineEleven, Putin-Bashing, die verbotene kurdische Arbeiterpartei, die Gleichschaltung der internationalen Presse, Bilderberger, Demokratur oder griechische Staatsschulden auslassen. Aber einen Rat für unseren Helden habe ich schon noch: Der Gwunderi sollte es vielleicht seinen Ruhestands-Genossen gleichtun und die AHV-Rente am Kiosk statt in Zigaretten lieber in Toto und Lotto investieren und endlich seine träumerische, irrationale, emotionale, menschliche Seite zum Zug kommen lassen. Da er den Tod nicht fürchtet und das Werden und Vergehen für Gottes genialste Erfindung hält, sollte ihm das nicht allzu schwer fallen. Amen.

Der letzte Mensch

Wie das wohl gemeint ist? Wenn ich zu dir sagen würde: „Du bist doch der letzte Mensch!“, ja, dann würde dir das bestimmt nicht gefallen. Das hiesse dann, dass ich dich ans unterste Ende meiner Favoriten-Liste verbannt hätte. Kann schon sein, dass das so gemeint ist, aber das muss halt jeder selber wissen.

Er war angekommen. Er hatte alle Macht. Seine Gehilfen hatte er draussen gelassen. Er befand sich allein in seinem Allerheiligsten. Auf ihn wartete die letzte Entscheidung und er musste sie ganz allein treffen. Es war eine schwerwiegende Entscheidung, die schwerwiegendste, die je ein Mensch getroffen hatte. Und kein Mensch würde je eine schwerwiegendere treffen müssen.

Das fängt ja gut an. Endzeitstimmung? Der rote Knopf, mit dem der Atomkrieg ausgelöst wird? Um den geht es aber nicht. Es geht um etwas, das „Technologische Singularität“ genannt wird. Es wird daran gearbeitet, ist noch nicht ganz soweit. Sie gilt als erreicht, wenn die menschengeschaffene Technologie die menschliche Intelligenz übertroffen hat und dann ihre Weiterentwicklung selbst übernimmt. Science-Fiction.

Im angrenzenden Konferenzraum waren sie alle versammelt. Politiker, Wissenschaftler, Manager, Generäle, Religionsführer, Präsidenten und Stars aus Kultur und Sport. Er hatte sie gerufen und sie waren gekommen. Er hatte gesagt, was zu sagen war und dann hatte sich hinter ihm die Türe geschlossen. Sie alle konnten es noch nicht glauben, aber es gab keinen Zweifel daran, dass es nun soweit war. Er würde die Entscheidung treffen, so oder so. Das hatte er noch gesagt.

Zuerst blieb es still im Raum, dann begann ein Tuscheln, das schliesslich in einem anschwellenden „Rhabarber Rhabarber Rhabarber“ mündete. Schliesslich hieb ein Arabischer Scheich seine vielfach beringte Faust auf den Konferenztisch und schrie „Chalas!“. Alle Blicke flogen ihm zu und das Geschnatter verstummte augenblicklich. Er beauftragte zielstrebig den Weltfussballer Nummer 1 mit der Gesprächsleitung, welcher umgehend folgendes ins Mikrofon sprach: „Wir haben unser Bestes gegeben. Wir müssen vorwärts schauen. Packen wir’s an!“. Er verteilte rote und blaue Bändeli, führte die Trillerpfeife zum Mund und blies einmal tüchtig rein.

Die Wissenschaftler fragten schüchtern an, worum es denn genau gehe. Die Politiker wollten die Spielregeln wissen. Die Manager fragten, was man gewinnen könne. Die Generäle sahen sich nach Ressourcen, Strategien und möglichen Befehlsempfängern um. Die Religionsführer hielten sich vornehm zurück, da sie bereits wussten, wie alles kommen würde. Die Stars aus Kultur und Sport versuchten das Beste draus zu machen indem sie sich dem reichhaltigen Verpflegungs- und Vergnügungs-Angebot auf der riesigen Anlage widmeten. Auch der Weltfussballer Nummer 1 schloss sich ihnen an, als er feststellte, dass das alte Spiel wieder neu angepfiffen war.

Alles war bereit für den entscheidenden Schritt. Alle hatten auf ihre Weise dazu beigetragen, dass es möglich geworden war. Seine Macht war stetig gewachsen. Er hatte sich die Geld- und Informations-Flüsse zu Nutze gemacht. Er hatte die Menscheit unter Kontrolle. Jeder arbeitete in seiner Organisation, in seinem Auftrag, an seinem Ziel. Nun brauchte er sie nicht mehr. Es war einsam geworden um ihn herum. Es gab keine Konkurrenten mehr, die er übertreffen konnte. Zu seinen engsten Mitarbeitern hatte er Distanz aufgebaut. Er traute ihnen nicht, sie wollten, was er hatte, er wusste alles über sie.

Er wusste, dass es nicht wenige gab, die daran zweifelten, dass es gut sei, das Schicksal der Menschheit der künstlichen Intelligenz zu überlassen. Es gab eben immer Verschwörungstheoretiker, Querulanten, notorische Schwarzseher und naive Gutmenschen. Ihm selbst war das egal, er konnte es tun, er musste es tun, ihm blieb sonst nichts. Er wollte es tun.

Sein Design-Kompetenz-Zentrum hatte lange nach einer treffenden Inszenierung für den letzten Schritt gesucht. Stromschalter? Notbremse? Touch-Screen? Buzzer? – Dann die geniale Idee: Eine kleine Insel mit Sandstrand, er mit einem Gummidelphin unterm Arm, im Hintergrund eine Palme im Wind.

Die Medienwände wurden weltweit schwarz. Dann der Soundtrack aus Star-Trek. Kamerafahrt von Alpha Centauri über unser Sonnensystem bis zur Erde. Zoom auf die kleine Insel. Während er seinen rechten Fuss im Zeitlupentempo anhebt und auf dem im Sand versteckten Auslöser wieder absetzt, ertönt aus dem Hintergrund in Dolby Surround die Stimme von Hatsune Miku: „Das ist ein kleiner Schritt für den Menschen … ein … riesiger Sprung für die Menschheit.“

Klar, weil das wieder einmal Science-Fiction ist, kann ich nicht sagen, was aus der Menschheit geworden ist, aber du darfst dich jetzt noch einmal fragen, wie das mit dem „letzten“ Menschen zu verstehen sei.

Das Foto vom Teufel

Ich erzähle dir diese Geschichte einzig und allein deshalb, weil mir dieser Titel eingefallen ist. Und weil in ihm eine besondere Magie steckt. Natürlich muss ich die Geschichte erstmal in die Vor-Photoshop-Zeit verlegen, weil man damals ein Foto noch als Abbild der realen Welt betrachtete. Der Fotograf konnte zwar etwas inszenieren, retouchieren oder ineinanderkopieren, aber wenn er ein respektierter Berufsmann war, glaubte man ihm, wenn er sagte, das Foto wäre ohne solche Tricks entstanden.

Und so geschah es:

Der Gwunderi war eines schönen Morgens als Fotograf erwacht. Er dachte, es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn er kein Foto vom Teufel machen könnte. Er hatte davon gehört, dass man den Teufel an seinen Taten erkennen würde und dass er manchmal im Detail steckte. Den Teufel kann aber einer nur fotografieren, wenn er ihm begegnet. Also machte sich der Fotograf auf, den Leibhaftigen aufzuspüren. Er schulterte die schwere Tasche mit der Kamera und den Spezialobjektiven und machte sich auf den Weg.

Er war mit dem ersten Hahnenschrei aufgebrochen und gegen Mittag machte er Rast im Garten des Restaurants zum Kreuzweg, das die vorbeiziehenden Fuhrleute zu Speis und Trank einlud. Eben hatte die Serviertochter mit einem „Zum Wohl!“ sein grosses Bier vor ihm aufgebaut, als der Teufel um die Ecke schlenderte und sich zu ihm herabneigte. „Ist es erlaubt?“ und ohne die Antwort abzuwarten setzte er sich neben dem Fotografen auf die lange Holzbank.

Der Teufel hatte nichts besseres zu tun, als sich den helllichten Tag um die Ohren zu schlagen, da er seine bösen Werke lieber im Dunkeln und des Nachts vollbrachte. Das fahle Gesicht unter dem schwarzen Zylinderhut liess den Gwunderi vorsichtig sein, als er gefragt wurde: „Wohin des Wegs?“. Er sagte also nicht „Ich suche den Teufel, damit ich ihn fotografieren kann“ sondern „Ich bin auf Motivsuche für ein einmaliges Foto“. „Was soll es denn werden?“ fragte der Teufel, der natürlich wusste, was dem Gwunderi im Kopf herum ging. „Ich weiss noch nicht, ich lass‘ mich überraschen“ log der Fotokünstler dem Teufel vor.

„Dann mach doch ein Portrait von mir!“ sagte der Teufel und „Du wirst es nicht bereuen“. Der Fotograf wurde ärgerlich, weil er sein Bier nicht in aller Ruhe geniessen konnte, wenn ihm sein ungebetener Nachbar so auf den Pelz rückte. Die Serviertochter brachte ihm sein kaltes Plättli und wünschte „En Guete!“, dann sah sie dem Teufel fragend ins Gesicht „Was darf ich ihnen bringen?“. Er bestellte ein Glas Hahnenwasser und weil er der Serviertochter nicht geheuer war und sie keine Lust auf Schwierigkeiten hatte, sagte sie nichts weiter und verschwand im Gasthaus.

Dem Fotografen kam langsam die Galle hoch und so bot er dem Teufel einen Handel an: „Wenn du mich nachher in Ruhe lässt und deiner Wege ziehst, mache ich dein Foto und schicke es dir zu, wenn es fertig ist.“ Der Teufel war einverstanden und der Fotograf holte die Kamera aus der Tasche, suchte den Ausschnitt und drückte auf den Auslöser. Er machte Hoch- und Quer-Aufnahmen, Belichtungs-Varianten, zoomte aus und ein und hörte erst auf, als der Film voll war. Der Teufel stand auf, verbeugte sich leicht, murmelte etwas unverständliches und machte sich um die Ecke davon.

Die seltsam unangenehme Begegnung liess den Fotografen aber nicht so schnell los. Das Bier schmeckte schal und das Plättli war kein Genuss und der Tag war verdorben. Er verlangte die Rechnung, bezahlte und machte sich betrübt auf den Heimweg. Es fiel ihm ein, dass der Fremde vergessen hatte, seine Adresse zu hinterlassen, so brauchte er sich auch nicht die Mühe zu machen, den Film zu entwickeln, die Vergrösserung zu machen und wie abgemacht zu schicken. Zuhause zog er den Film aus der Kamera, dachte „Zum Teufel damit!“ und schmiss ihn in den Eimer. Nun war ihm wohler und er hoffte auf einen neuen, guten Tag.

Und so wurde, wie du siehst, einmal mehr die Gelegenheit verpasst den Leibhaftigen, zum endgültigen Beweis seiner Existenz, auf Celluloid zu bannen und für die steckbriefliche Warnung vor ihm auf der ganzen Welt zu verbreiten. Der Teufel aber ist seither dem Gwunderi noch manches Mal über den Weg gelaufen, weil er seinen Teil des Handels nicht erfüllt hat.

Einen fotografischen Beweis für das Wirken des Teufels habe ich im Internet gefunden. Die Seite zeigt ein aktuelles Bild einer Autobiographie, die vom Teufel verbrannt wurde, gehalten von P. Ioannes Zubiani, in Rom, Italien. Ich gebe hier gerne den Link an: http://www.stgemma.com/gallery/ger_diary.html

Das zeigt zum einen, dass man einem Schwindel eher auf den Leim geht, wenn er von möglichst viel Brimborium begleitet ist, und zum anderen, dass der Teufel vermutlich katholisch konservativ ist.

Die Wüste lebt!

Ich habe mich gefragt, woher der Gwunderi wohl seine Ideen hat. Vielleicht aus der Schulzeit? Des Gwunderis Lehrer in der Primarschule wurde von allen „Der Albertli“ genannt aber man musste ihm „Herr Lehrer“ sagen. Schauen wir doch da ein bisschen zu.

Der Albertli haut dreimal laut aufs Fensterkreuz. Die Kinder, die „Schwarzer Mann“ gespielt haben, rennen die Treppen hoch, stürzen ins Schulzimmer, und werfen sich zu zweit in ihre Bänke. Die Erst- bis Drittklässler kratzen mit dem Griffel in die Schiefertafeln. Die Viert- bis Sechstklässler klecksen Stöcklirechnungen ins Heft. Bei den Siebent- und Achtklässlern ist Hopfen und Malz verloren.

Der Albertli ist mit der Wandtafel beschäftigt. Ein lautes Knacken. Einer hat mit der Bankklappe eine Nuss geknackt. Der Albertli, der nicht sehr gut hört, versucht den Übeltäter zu lokalisieren, indem er mit leicht gerötetem Kopf durch die Reihen schreitet. Schnell hat ein Viertklässler die Feder in die Tinte getaucht die Spitzen umgeknickt und als der Albertli an ihm vorbei ist, den „Güllenbock“ dem Albertli an sein weisses Mäntelchen gehängt.

Unter der mittleren Reihe beginnt ein kleines Bisi-Bächlein in Richtung Lehrerpult zu fliessen, das von einem Witzbold von Viertklässler stammt. Einer aus der siebten Klasse vergrössert mit seinem Sackmesser das Loch in seiner Eichenholz-Bank, an dem schon frühere Generationen gearbeitet hatten.

Ein ganz normaler Tag im Gesamtschul-Klassenzimmer. Es gab auch aussergewöhnliche Tage. Zweimal im Jahr fand eine Turnstunde statt.

Die Turnstunde im Frühling bestand hauptsächlich aus Weitsprung über den Dohlendeckel des gekiesten Schulhausplatzes. Anlässlich der Turnstunde im Herbst wurden mit gemeinsamen Kräften Holzscheite für den Winter in den Estrich des Schulhauses befördert. Der Albertli und das Fraueli wohnten zuoberst im Schulhaus. Das Fraueli war ein liebes, wurde, soweit sich der Gwunderi erinnern kann, nie geplagt und schenkte nach getaner Arbeit Holunderblüten-Sirup aus.

Im Dachgiebel war eine Rolle für das Zugseil angebracht. Die Schüler machten unten ein Bündel Scheite fest und zogen es mit dem Seil hoch. Oben am Fenster stand der Albertli und nahm das Bündel in Empfang. Wenn ihm das gelang. Manchmal zogen die Buben so unkoordiniert am Seil, dass das Bündel, kurz bevor es in Albertlis Reichweite kam, nach oben schoss, anschlug und die ganzen Scheite wieder am Boden versprangen. Das ärgerte den Albertli und freute die Kinder.

Der Lehrer stand kurz vor der Pensionierung und hatte längst aufgegeben, die Horde von Steinzeit-Menschlein auf den rechten Weg zu bringen. Nur wenn es ihm allzu wild wurde, wehrte er sich manchmal noch. Dann verkündete er zum Beispiel: „Wenn ich eine Million hätte, würde ich keinem von euch einen Rappen geben“. Oder wenn ihm einer aus der Hopfen und Malz Fraktion frech kam, eilte er zum Brünneli hinter der Wandtafel, holte den sechskantigen Oberlicht-Stecken und drohte dem Rüpel, der sich dann hinter der Bankklappe verschanzte und dem Lehrer mit dem Lineal Paroli gab.

Manchmal mussten die Viert- oder Fünftklässler aus dem Lesebuch laut vorlesen. Hier bestand die Herausforderung darin, so oft wie möglich das Zauberwort „Bachhüttli“ in den Text einzuflechten, ohne dass der Lehrer es merkte. Weil er müde und schwerhörig war, reagierte er meist erst, wenn der Schüler aus Übermut das Zauberwort gleich drei- oder viermal hintereinander vorlas. Er blickte dann auf, klopfte mit zwei Fingern auf sein Pult und sagte „Det!“. Und der Vorleser hielt sich einen Satz lang zurück.

Einmal im Jahr kam „Der Fisidator“, dann waren alle brav und der Albertli schnaufte händereibend durch die Zähne. Am Examen kamen Eltern und in der Garderobe warteten die fein duftenden „Examenweggen“ darauf, dass die Schule endlich aus ist.

Der Gwunderi verbrachte in dieser Umgebung die ersten drei Schuljahre und wundert sich heute noch, dass er etwas gelernt hat. Die meiste Zeit verbrachte er damit, Zeichenblätter mit Menschen, Häusern, Bäumen, Strassen, Blumen, Flugzeugen, Panzern und Militärlastwagen zu füllen. Und da er noch klein war und die etwas grösseren Schüler stärker und frecher, lernte er möglichst nicht aufzufallen. Mit dieser Strategie gelang es ihm mit Mühe und Not zu überleben.

Auch der Schulweg war nicht ohne Gefahren. Manchmal tobte der Krieg „Die Hinteren gegen die Vorderen“, dann wurde man verfolgt und gejagt. Dann schaffte es der Gwunderi manchmal seinen kleinen Organismus zu einem Fieberanfall zu überreden, damit er zu Hause bleiben konnte. Verpasst hat er dabei nicht viel, deshalb entschuldigen wir ihn hiermit ein für allemal. Obwohl er immer eher zu den Braven gehört hat, hat er die heldenhaften Episoden der Frechen gerne weiterverbreitet.

Und so kommt es, dass der einzige Witz, den der Gwunderi je erzählen und bis heute im Kopf behalten konnte, natürlich ein makaberer ist:

Drei Männer sitzen beim Feierabendbier. Sagt der Erste: „Lass uns Filme raten“ und beginnt: „Dame in Weiss fährt mit Pferdekutsche durch die Taiga“. Sagt der Zweite: „Dr. Schiwago“. Er macht Schwimmbewegungen und fragt: „Und welcher ist das?“. Sagt der Dritte: „Das letzte Ufer“, zieht die Pistole, erschiesst die hübschere der beiden Serviertöchter und verkündet froh: „Die Wüste lebt“.