Die ID-Entität

Wer bin ich und wie beweise ich das?

Nachdem mich meine Mutter geboren hatte, schrieb der Gemeineschreiber nach einiger Zeit meinen Namen mit Federhalter und Tinte ins Familienbüchlein. Für eine Ferienreise erhielt meine Mutter den Eintrag „Frau Peter reist mit ihren Söhnen“ in ihren Pass geschrieben und die Vornamen dieser Söhne wurden eingetragen. Als ich geheiratet hatte, bekam meine neu gegründete Familie ihr eigenes Familienbüchlein, welches bei der Einwohnerkontrolle gehütet wurde. Gegen Vorweisen des Schriften-Empfangsscheins konnte dieses Familienbüchlein eingesehen, kopiert oder behändigt werden.

Wer hat das Büchlein?

Als meine geschiedene Frau AHV-Bezügerin werden wollte, wurde zur sicheren Identifikation das Familienbüchlein verlangt, sie fand es nicht bei ihren Unterlagen und vermutete, dass ich dieses hätte. Hatte ich nicht. „Versuch doch, die Anmeldung ohne das Büchlein abzuschicken“, war mein Rat. Ich dachte mir, dass die Behörden heutzutage vielleicht andere Methoden hätten, um eine Mitbürgerin sicher zu identifiziern und wozu dient eigentlich die AHV-Nummer?? Wie immer 😉 hatte ich natürlich recht: Das Renten-Geld sprudelt und der Verbleib des Familienbüchleins hat keine Bedeutung mehr. Als dann meine Freundin vor dem selben Problem stand, nämlich das verflixte Büchlein von ihrem Ex-Mann zu bekommen, konnte ich sie beruhigen und ihr den selben Rat wie oben geben.

Die ID-Entität

Füge ich in den Begriff „Identität“ ein kleines Strichlein an der richtigen Stelle ein, bekommt das neue Wort in der Schreibweise „ID-Entität“ eine selbsterklärende Bedeutung. Zu Deutsch verstehe ich jetzt darunter in etwa folgendes: Mit einer Kennung versehenes Wesen. In der Datenbank-Praxis ist die „ID“ eines Datenbank-Eintrags einzigartig, das heisst, sie kann nur einmal als Identifikator eines Eintrags in dieser Datenbank vorhanden sein. Der Begriff Entität bezeichnet laut Wikipedia in der Philosophie ein Seiendes und in der Informatik ein eindeutig zu bestimmendes Objekt im Datenmodell.

Das Familienbüchlein

Das Familienbüchlein war ein Dokument, welches Ehegatten bei der Heirat erhielten und welches über den Bestand der Familie Auskunft gab. Das Büchlein war bei Geburten, Todesfällen und beim Umzug in eine andere Wohngemeinde dem Zivilstandsamt vorzulegen.
Mit der Einführung des schweizweiten elektronischen Registers „Infostar“ wurde das Familienbüchlein abgeschafft. Es wurde 2005 durch den Familienausweis, einem Auszug aus den Einträgen in „Infostar“ ersetzt.

Ein früher Stern am ID-Himmel

Mit Hilfe der Infostar-Datenbank werden seit dem 1. Januar 2005 alle Zivilstandsereignisse der Schweizer Wohnbevölkerung sowie von Auslandschweizern beurkundet. Wurden die Zivilstandsereignisse und Familienbeziehungen im Familienüchlein noch familienweise aufgeführt, geschieht dies in „Infostar“ individuell, das heisst personenbezogen. Zugriff auf „Infostar“ haben die Zivilstandsbehörden, die ausstellenden Behörden für Ausweise von Schweizer Staatsangehörigen sowie die Bundesstellen, die für die Führung des Fahndungssystems und des Strafregisters zuständig sind. Mit dem Ersatz des Familienbüchleins durch den Familienausweis wurde die Entität „Familie“ durch die Entität „Einzelperson“ ersetzt.

Der Raketen-Start

Der Zufall wollte es nun, dass ich den Blick-Am-Abend in die Finger bekam und dass dieser ausgerechnet eine Spezialausgabe zum 1. Schweizer Digitaltag, dem 21. November 2017 war, an dem Bundesrätin Doris Leuthard gemäss Zitat in diesem Gratis-Blatt die „Digital-Rakete“ zündete. Die Schlagzeile „Der digitale Personalausweis kommt!“ sprang mir sofort ins Auge, und da ich gerade am Bitcoin/Blockchain-Fieber leide, war mir klar, dass die elektronische Identität jedes Erdenbewohners in eine Blockchain gehört. Ich las den Artikel, weil ich erfahren wollte, ob Doris Leuthard auch schon so global denkt oder vielleicht doch noch nicht. Ich erfuhr darin, dass sie die technische Umsetzung an die Vereinigte Finanzwirtschaft delegiert und darauf vertraut, dass diese die „E-ID für alle“ mit einer genügend grossen Kelle zubereitet.

Das Empirium prescht vor

Der Plan geht so: Es wird eine E-ID-Firma gegründet. Aktionäre mit je 17,5% sind Post, SBB und SIX, der Dienstleister der Finanzbranche, der die Finanzplatz-Infrastruktur der Schweiz betreibt, soeben den CEO ausgewechselt, Stellenabbau angekündigt und sich gerade komplett neu ausgerichtet hat sowie mit je 6,857% ZKB, Raiffeisen, CreditSuisse und UBS, dann mit mit dem Rest die Versicherungen (z.ZT. Die Mobiliar). Sie alle werden uns demnächst die E-ID anbieten und versprechen, dass sie für uns damit das Problem der tausend Benutzernamen und Passwörter ein für allemal und erst noch gratis und franko lösen werden. Den Anfang macht die Post noch in diesem Jahr, dann folgen die SBB 2018, danach Banken, Versicherungen und Behörden. Der Erfolg der E-ID hängt von der Akzeptanz der Nutzer ab, machen wir uns also auf eine gigantische Propagandawelle für die „E-ID für alle“ gefasst. Mit der Einführung der E-ID wird die Entität „Einzelperson“ durch die Entität „Wirtschaftsteilnehmer“ ersetzt.

Im selben Boot

Wir alle plagen uns seit geraumer Zeit mit dem Passwort-Problem ab: Wir haben Zutritt durch Logins bei allen möglichen Entitäten wie Computer, Smartphone, E-Mail, Bank, Krankenkasse, Steuererklärung, Google, Facebook und … und … und. Wir sollen möglichst sichere, unterschiedliche Passwörter verwenden, die wir dann auch noch ab und zu ändern sollten, damit sich Cyber- und andere Kriminelle nicht in unserem Namen Zugriff auf sensible Daten ergaunern. Die E-ID möchte diese Unbequemlichkeiten ein für allemal und endgültig aus der Welt schaffen. Pro Entität eine ID und fertig.

Wirtschaft und Politik

Wirtschaftsteilnehmer sind Anbieter und Abnehmer, Personen und Firmen, Institutionen und sogar Dinge bis hin zu mit Sendern bestückten aussterbenden Tierarten, Robotern und unbemannten Fahr- und Flugzeugen, die ja auch irgendwann „essen“, das heisst Treibstoff oder Updates laden müssen. Sie brauchen im digitalen Zeitalter, genau wie du und ich, eine Identität um ihr täglich Brot abzugelten. Dass die E-ID in der Schweiz nicht durch die Behörden, sondern durch die Privatwirtschaft vergeben wird, bestätigt mich in der Erkenntnis, dass sich die Politik hierzulande längst dem Finanzsystem untergeordnet hat und diesem euphorisiert hinterher traumwandelt.

Der Stand der Dinge

ZG: Die Stadt Zug vergibt seit Mitte 2017 ihren Bürgern als „weltweit erste Stadt eine E-ID“ auf der Basis der Ethereum-Blockchain.
CH: Die Schweizer Wirtschaft gründet noch im selben Jahr einen E-ID-Vermittler Namens „Swiss Sign Group“ und legt dem Bund durch die „Swiss Data Alliance“ ein Konzept-Papier für ein Gesetz über die E-ID vor. Der E-ID-Vermittler wird sich mit Hilfe einer Blockchain zwischen den Dienstleister und den Kunden schalten, so wie das andere auch tun: „Mit Facebook/Google anmelden“, man kennt das schon. Beim Bund sollen die Identitätsdaten der Kunden dann regelmässig überprüft, aktualisiert und mit den Dienstleistern ausgetauscht werden. Die Beteiligung des Bundes soll das Vertrauen der Kunden in die E-ID stärken und ihre Akzeptanz fördern.
EU: Die Europäische Union plant den „Digital Single Market“ und setzt die Richtlinien durch „CEF Building Blocks“ fest.
US: Die USA erlassen die „NIST Digital Identity Guidelines“. Was der Rest der Welt unternimmt, um alles einheitlich zu nummerieren, was da so kreucht und fleucht, mag ich jetzt nicht auch noch recherchieren.

One-For-All

Eine ID, Eine Währung, Eine Datenbank. Das wird so sicher kommen, wie der Weltuntergang, ob mit oder ohne Rakete. Obwohl mit der Blockchain-Technik theoretisch überflüssig, möchten die Finanzdienstleister diese dazu nutzen, Kosten zu sparen und überhaupt im Geschäft zu bleiben bevor der dezentrale globale Geldverkehr sie komplett aus dem Rennen wirft. Ich wünsche uns allen einen erfolgreichen Flug ins All. Und hoffentlich wird eine Win- oder eine Win-Win- oder sogar Die-Win-Win-Win-Geschichte daraus. Und wenn es denn irgendwie möglich wäre, bitte Win-For-All. Wir ziehen ja alle am selben Strick aber vielleicht nicht immer auf derselben Seite.

3 thoughts on “Die ID-Entität”

  1. „Em Tüüfel isch nit ztrue“, sagt der Innerschweizer. Ja, ich bezweifle ob diese neue ID (einer AG gehörend – ein weiterer Spritzer der Privatisierungswelle) für den kleinen Mann wirklich eine Erleichterung bringt. Ich traue keiner AG, denn die müssen ja Gewinn erwirtschaften. Schön wär’s ja schon, wenn es nur ein Passwort für alles gäbe. Jedes Mal ein neues zu erfinden ist ein Ärgernis und überfordert mich schon lange.
    Zum Teufel mit der totalen Digitalisierung! Um all die für mich neuen Anforderungen zu bewältigen muss ich mich wohl „warm anziehen“ trotz der Erderwärmung. Aber es wird ja sowieso bald kaltes Winterwetter einkehren … so what!

  2. Hey Max, mir scheint, dass Du dich, nach wahrscheinlich zeitaufwendiger Recherche, einmal mehr fundiert mit einem Thema auseinander gesetzt hast, um dieses dann mit einem Schuss Humor und einer Brise Ironie in einer weiteren deiner Geschichten zu präsentieren. Um die Absurdität der staatlich bedingten bürokratischen Bemühungen zum Erhalt einer Übersicht und auch Kontrolle ihrer Bürger aufzunehmen und das Ganze auf eine mehr philosophische Ebene zu „liften“, empfehle ich, und dies nur des Buchtitels wegen und ohne dass ich selbst das Buch gelesen habe, die Lektüre „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele“ von Richard David Precht. Als „Unser Bürgerphilosoph“ bezeichnete ihn der Autor in seiner in der „Die Zeit“ 2011 erschienenen Buchbesprechung. Wir sehen uns.
    Gruss Willy

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