Baustelle im Kopf

Es soll ja Leute geben, die machen sich in der Pubertät ein Bild von der Welt und halten daran fest, bis sie diese endgültig verlassen. Beim Gwunderi war das nicht so. Hineingeboren in eine Welt aus Wiesen, Wäldern, Bächen, Tieren und eine überschaubare Anzahl von grundverschiedenen Menschen zog er in die nahegelegene kleine Industriestadt um einen gescheiten Beruf zu erlernen.

Und schon erfuhr er zum ersten Mal, dass die „Guten“ zu den „Bösen“ werden können und die „Bösen“ zu den „Guten“. Natürlich schlug er sich wenn möglich auf die Seite der „Guten“, was aber verständlicherweise schwierig ist, wenn diese sporadisch die Farbe wechseln. Es dauerte seine Zeit, bis er zum Beispiel die sehr respektablen Herren Vorgesetzten in seinem Weltbild an die Stelle gerückt hatte, die sie als Schinder, Tüpflischiisser und Menschenverachter verdient hatten.

Aus Protest liess er sich die Haare lang wachsen und trieb sich in seiner Freizeit mit zwielichtigen Musikanten und Revoluzzern herum, die sich aber als gute Kameraden und inspirierende Bewohner von Oasen der Menschlichkeit entpuppten. Dann kamen die Drogen und eines Nachts stand der Gwunderi allein auf dem Asphalt der Stadt in der LSD erfunden worden war und sah vor sich das Höllenfeuer aus dem Pflaster steigen. Der Gwunderi wurde ein Anderer und von dem Tag an hatte er keine Angst mehr vor dem Tod.

Die Zeit verging und sein erstes Kind kam zur Welt. Über Verantwortung hatte er sich bis dahin keine Gedanken gemacht. Arbeitest du, bekommst du Lohn und wenn du nicht mehr ausgibst, als du bekommst, hast du keine Probleme. Schlagartig wurde ihm klar, dass nicht der Staat und nicht der liebe Gott und auch kein anderer Mensch ihm und seiner Frau die Verantwortung für das neue Menschenkind abnehmen würden. Es lag an ihnen ganz allein.

Er wollte nun für die junge Familie sorgen und fand eine höchst interessante Stelle in einem Beruf, den es bisher noch nicht gegeben hatte. Er wurde einer der ersten drei Computergrafiker im ganzen Land und keiner wusste, wie das funktionierte. Der rastlose Fototechnik-Unternehmer, der die Stelle ausgeschrieben hatte, hatte in den USA die europaweit erste Anlage bestellt, die ab digitalen Daten Grafiken auf Dias belichten konnte. Die Belichtungseinheit allein füllte einen ganzen Büroraum und die zwei Workstations für die Erstellung der Grafiken einen zweiten. Zwei Amerikaner instruierten die drei absoluten Computerneulinge auf amerikanisch, was so gut wie nichts brachte.

Der Gwunderi, der bisher mit realen Dingen wie Bleiklötzli, Karton, Folie, Klebstoff, Fotopapier und anderem gearbeitet hatte, trat in die virtuelle Welt der digitalen Datenverarbeitung ein. Es fühlte sich an wie Zellteilung: Plopp-Aha-Plopp-Plopp-Aha und so weiter. Ein neues Denken wurde geboren. Zum Beispiel ein Kreisdiagramm mit drei Segmenten zu 10%, 30% und 60%: Tastatur mit Funktionstasten, Begin Sequence, New Figure, Color 30, Type Circle, Origin 84/54, Start 0, End 36, End Sequence. Es erscheint ein grünes Kreissegment am Bildschirm. Das Schritt-für-Schritt-Ding in der vorgegebenen Reihenfolge, bin ich denn selber ein Roboter, oder was?

Hatte der Gwunderi früher hauptsächlich mit den Tücken der unterschiedlichsten Objekte zu kämpfen gehabt, unterlag jetzt plötzlich alles der reinen, nackten, kalten Zahlenlogik. Es gab im Ganzen 36 Farben, 3 Figurtypen und dann noch Koordinaten und Schriftarten und Schriftgrössen. Wenn er nach einem überstandenen Arbeitstag im Zug nach Hause fuhr, passierte ihm häufig dieses Plopp-Aha-Plopp-Ding und mit der Zeit bekam er Schwierigkeiten mit den Emotionalitäten der Mitmenschen, die noch in ihrer irrationalen realen Welt gefangen waren.

Lange Zeit ist der Gwunderi der virtuellen digitalen Welt treu geblieben. Als er dann wegen fortgeschrittenen Alters in den Ruhestand geriet, hatte sich diese neue Welt überall breitgemacht. Selbst die Frauen, die sich lange dagegen gewehrt hatten, hatte sie sich zu Untertaninnen gemacht, indem sie sich als Schnädertante verkleidete. Die weltweite Verbreitung des Internets schuf eine völlig neue Welt, in der jederzeit überall alles zur Verfügung stand. Jedenfalls alles virtuelle. Wasser und Nahrung waren noch nicht virtuell und standen nicht jederzeit und überall zur Verfügung und daran hatte wahrscheinlich keiner gedacht oder so.

Und so wollte der Gwunderi halt wissen, woher dieser Fehler im System kommt. Und wenn man heutzutage etwas wissen will, fragt man Google. Und wiedereinmal musste der Gwunderi nach wochenlangen Recherchen sein Weltbild komplett über den Haufen werfen. Er hat nämlich folgendes dabei herausgefunden: Die virtuelle Welt greift nach den Sternen, die reale Welt verabschiedet sich von den Menschen, die Reichen und Mächtigen wollen noch mehr Reichtum und Macht und die übrigen haben Wünsche und Hoffnungen oder keine mehr.

Ich will mich jetzt nicht lange über die Illuminati, NineEleven, Putin-Bashing, die verbotene kurdische Arbeiterpartei, die Gleichschaltung der internationalen Presse, Bilderberger, Demokratur oder griechische Staatsschulden auslassen. Aber einen Rat für unseren Helden habe ich schon noch: Der Gwunderi sollte es vielleicht seinen Ruhestands-Genossen gleichtun und die AHV-Rente am Kiosk statt in Zigaretten lieber in Toto und Lotto investieren und endlich seine träumerische, irrationale, emotionale, menschliche Seite zum Zug kommen lassen. Da er den Tod nicht fürchtet und das Werden und Vergehen für Gottes genialste Erfindung hält, sollte ihm das nicht allzu schwer fallen. Amen.

One thought on “Baustelle im Kopf”

  1. So! Nun denn, ja also, wenn niemand einen Kommentar zu seiner Baustelle im Kopf schreiben will, kann ich es mir nicht verkneifen bei einem Trappiste Rochefort 10 in die Tasten zu greifen…
    Wirtschaftswachstum bedingt Wirtschaftswelken. Im Kampf um die Gen-Oberherrschaft auf dieser Kugel bedienen sich Neo-Tyrannosauren in Bananenrepubliken und Siebensternhotelsuiten in Luxusresorts der Sklavinnen aus aller Welt. Wer nicht willig ist, lässt man massakrieren…
    Wirtschaftswachstum nehmen sich die Unersättlichen – Wirtschaftswelken überlässt man dem grossen Rest der Welt. Hauptsache, der Ober-Tyrannosaurus sagt wo der Bartli den Most holt…
    Na ja, alles halb so schlimm, aber die warme Luft musste einfach wieder mal raus!

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