Dölfi und der Meisenvogel

Es ist mir klar, dass ich, wenn ich hier versuche, dir diesen Text schmackhaft zu machen, nichts weiteres tue, als Zeichen und Leerschläge so anzuordnen, dass du darin etwas zu finden hoffst, was dich unterhält oder auf andere Gedanken bringt oder vielleicht zu neuen Erkentnissen führt oder in alten bestätigt.

Da fällt mir ein, dass direkte Rede näher am Gespräch und kurze Sätze leichter verdaulich sind. Sei’s drum. “Du bist der Leser” sage ich und “Ich bin der Schwätzer”.
“Also schwatz kein Blech” denkst du vielleicht und ich entgegne “Das ist Ansichtssache”.

Bist du noch da?

Du kannst jetzt aufhören weiterzulesen, dann musst du dir aber etwas anderes einfallen lassen, womit du deine Zeit vertust.

Da ist ein warmer Sommertag, ein plätscherndes Bächlein, eine Blumenwiese und meine nackten kleinen Füsslein, die ich staunend betaste. Das Glück.

Ganz allein im Schatten eines Apfelbaums die Angst, dass eine verfuchtelte Wespe plötzlich ihre ganze Sippe auf mich hetzt. Die Panik.

“Mir ist langweilig, ich habe Hunger” habe ich oft von Kindern gehört. Das bedeutet, dass ihnen selber nichts mehr einfällt und sich jemand um sie kümmern soll. Dafür sind Geschichten da. Oder Schoggistängeli. Aber die bestehen nicht aus Zeichen und Leerschlägen.

Bist du immer noch da?

Also dann, die Geschichte. Sie ist so alt wie die Menschheit und so jung wie die Sekunde, die eben begonnen hat. Sie passiert und du bist schon mittendrin.

Wie jeden Morgen war die Welt gerade erst erschaffen worden. Heute hatte das die Sonne gemacht. Das freute die Amseln und Meisen und Finken und Spatzen und Schwalben.

Der Kleine brauchte keine Strümpfe oder Socken. Er freute sich über die Freiheit seiner nackten Füsschen und probierte damit alle möglichen Erscheinungsformen der Erdoberfläche aus. Feuchte Erde, die zwischen den Zehen hochquillt, spitze Kiesel, die brennen, wie heisse Kohle, das kühle fliessende Wasser im Bach, der heisse weiche Teer auf der Strasse, das feine kühle Gras der Wiese.

Er wusste noch nicht, dass er das alles eines Tages gegen das ABC, die Quadratwurzel, die Schlacht am Morgarten, und alle anderen sinnlosen Bemühungen seiner Spezies, den Gipfel der Erkenntnis zu erklimmen, auf nimmerwiedersehen einzutauschen hatte. Und das war gut so.

Alle anderen um ihn herum hatten ihre Pläne und so wurde der Kleine gerufen und auf den Heuwagen gehievt, damit man ihn beim Zusammenrechen und Aufladen nicht allzusehr aus den Augen verliere. Das Heu wurde gebraucht, um die 3 Ziegen über den nächsten Winter zu bringen und da er noch zu klein zum Helfen war und den Grossen nur im Weg herumstand, wurde er unter dem Apfelbaum beim Zvierikorb abgestellt. “Bleib da, es dauert nicht lang” sagte die Mutter, ging davon und wurde kleiner, bis sie so klein war, wie die anderen, die mitmachen durften.

Natürlich hatte die Mutter keine Ahnung davon wie lange “nicht lang” sein kann, wenn man nicht dabei sein darf. Und so blieb dem Kleinen nichts anderes übrig, als, wenn er “bleib da” einhalten wollte, den neben ihm im Gras abgestellten Zvierikorb zu untersuchen.

Genau das hatte sich zur selben Zeit auch eine Wespe vorgenommen. Angelockt durch die unverkennbar essbare Dinge verkündenden Düfte, die durch die warme Nachmittagsluft zogen, folgte die Wespe der Fährte, die mal hier mal da, mal vor mal zurück stets ein bisschen näher zum Schlaraffenland führte.

Unglücklicherweise war das Schlaraffenland ein sehr kleines Land und so mussten die beiden, die sich dafür interessierten, unausweichlich aufeinandertreffen. Dem Kleinen gefielen das nervöse Gesumm und die gefährlichen Farben der Wespe gar nicht und so schlug er mit seinen Ärmchen, Händchen, Beinchen und Füsschen wild um sich. Dabei stupste ein Händchen zufällig die Wespe, die sich sogleich verwirrt davonmachte.

Verblüfft über seinen schnellen Sieg, dachte der Kleine näher über die Wespe nach. Sofort kam ihm “Wespennest” in den Sinn und die grossen Augen seiner Geschwister, wenn sie dieses Wort sagten. Die Angst, die in ihm hochkroch, entlockte seiner Fantasie die schlimmsten Befürchtungen. “Sie fliegt nach Hause, erzählt alles den anderen und dann fällt der ganze Schwarm über mich her” redete ihm sein Gewissen ein. Er fühlte sich schuldig und allein und hilflos in grösster Gefahr.

Apfelbaum und Zvierikorb und Sonne und alles andere um ihn herum waren spurlos verschwunden. Auch diese Welt war gerade erst erschaffen worden und sie war voller Angst und Schrecken und sonst gar nichts. In seinem ganzen Leben würde er nie wieder vergessen, dass aus heiterstem Himmel die schwärzeste Nacht werden kann. Er schrie los, so laut er konnte und das bedeutete, dass ihm selber nichts mehr einfiel und sich jemand um ihn kümmern solle.

Da für die meisten Mütter das Wohl ihrer Kinder über dem Gipfel der Erkenntnis steht, kam statt des Wespenschwarms sie, in die er wieder hineinkriechen konnte, wenn die Welt da draussen aussah wie ein Höllenhund, der im Dunkeln sieht und alles frisst, was ihm über den Weg läuft. Er kroch hinein und blieb so lange dort, bis eine neue Welt kam, die etwas Hoffnung aufkeimen liess und mit Licht und Farbe die alte verblassen liess und zu den dunklen Erinnerungen schob.

Wenn nun jemand behauptet, der Kleine habe noch nicht viel von der Welt gesehen, dann sollte er sich schämen, das so gedankenlos daherzusagen. Die hellste und die dunkelste hat der Kleine schon gesehen. Was noch kommt, sind Zwischentöne, aber nichts, was schlimmer oder besser ist.

Ein kleiner Meisenvogel ist vor mein Fenster geflattert. Mit seinem Schnabel hat er an die Scheibe geklopft. Will er herein? Warum sollte er? Kommt er wieder? Meint er mich? Ich glaube, er wollte mir sagen, dass er die Wespe aus der Geschichte gepickt hat.

Und das kam so:

Ob du’s nun glaubst oder nicht, durch den kurzen, heftigen Schlag, den die Wespe abbekommen hatte, hatte eine neue Wespenwelt ihren Urknall. Und sie begann sich auszudehnen, so wie das alle neuen Welten nun einmal tun. Aus Angst und Schrecken spritzte die Wespe ihr Gift sinnlos in die neue Welt hinein und damit war diese schon vergiftet, bevor sie überhaupt das erste kleine Düftchen entwickelte.

Weil diese Wespe jetzt unsere ist braucht sie endlich einen Namen. Wäre sie eine Biene, könnten wir sie Maja nennen. Weil sie aber männlichen Geschlechts ist und es ihr gerade nicht so gut geht, nenne ich sie Dölfi. Dölfi floh solange er konnte und überliess sich seinem Schicksal erst, als er nicht mehr anders konnte.

Sein Schicksal war nass und roch nach nichts und auf dem kleinen Weiher schwamm ein dünner Strohhalm, was Dölfi aber nicht wissen konnte, weil er diese Worte nicht kannte. Trotzdem klammerte er sich mit seiner letzten Kraft daran fest. Er hatte keine Hoffnung, dass seine Mutter, die Wespenkönigin, ihn retten könnte, weil Wespenköniginnen das Wespennest nicht verlassen dürfen, solange sie noch ein Volk haben.

Am Strohhalm war noch ein schmales dürres Blättchen dran und das bot dem frischen Wind in der neuen Wespenwelt ein kleines bisschen Widerstand. So schipperte der Halm mit seiner Fracht ans sonnenseitige Ufer. Dölfi spürte etwas neue Kraft in seinem Körper fliessen. Sofort versuchte er sein Schicksal loszuwerden indem er anfing, seine schweren, nassen Flügel in Bewegung zu versetzen.

Das kleine Mädchen hatte schon länger den Rossköpfen zugeschaut, wie sie so hin und her und auf und ab schwammen. Mit seinen kleinen Händchen hatte es versucht einen zu fangen um ihn näher bei sich haben zu können. Da fiel sein Blick auf den Strohhalm mit Dölfi, der sich mit seinen nassen Flügeln abmühte. Erstens ist es schön, wenn man Leben retten kann und zweites war Dölfi leichtere Beute, als die putzmunteren Rossköpfe. Ganz behutsam zog es den Strohhalm aus dem Wasser und streifte Dölfi vorsichtig auf einem trockenen Kleeblatt ab. Dann hoffte es auf ein Wunder.

Es war ein vierblättriges Kleeblatt und stand in der Sonne. Dölfi fühlte sich zunehmend besser und sein Wespenkörper begann in seinen Wespenfarben zu strahlen. Ins kleine Mädchen schlichen sich Zweifel, ob es klug gewesen sei, das gefährliche Wesen zu retten. Es ging nicht davon aus, dass Dölfi vielleich dankbar sein könnte, dass es ihn gerettet hatte. Es dachte etwas verwirrt über die Welt nach und beschloss woanders einen Wiesenstrauss zu pflücken.

Dölfi versuchte sich zu orientieren, fand Gerüche von essbaren Dingen in der Luft und machte sich an die Arbeit. Nach diesem soeben erfolgreich überstandenen Abenteuer wollte er eine junge Königin suchen, die dann seinen Ruhm in Form eines von ihm stammenden Wespenvolkes weit in die Zukunft tragen würde.

Der neugeborene Held und zukünftige Stammvater eines Heldenvolkes strahlte heller als die Nachmittagssonne, so hell, dass mein Meisenvogel nicht daran vorbeisehen konnte. Er zog den Hut, sagte “Hallo” und – verpickt und verputzt – war Dölfi ins untere Ende der Nahrungskette abgestürzt.

Weil der Meisenvogel unbedingt jemandem von seinem Jahrhundertfang erzählen musste und er schon beobachtet hatte, dass ich mich den ganzen Tag mit Zeichen und Leerschlägen beschäftige, dachte er sich, wenn ich dem das erzähle, komme ich in seine Buchstaben hinein und werde berühmt.

Bist du jetzt immer noch da?

Dann hast du dir schön was aufgeladen. Da es nun nichts wird mit dem Wespen-Heldenvolk und Dölfi und der Meisenvogel nur in diese kleine Geschichte eingegangen sind, aber nach höheren Ehren streben, solltest du, falls du ihnen und mir den Gefallen tun möchtest, meine Geschichte weiterempfehlen, damit sie in allen Welten bekannt und nie wieder vergessen werde.

3 thoughts on “Dölfi und der Meisenvogel”

  1. Eine wirklich hervorragende Geschichte! Herzliche Gratulation. Sie muss weiter erzählt werden. Du bist ein begnadeter Literat.
    Ich bin gespannt auf weitere Highlights.

  2. Lieber Max, danke für die Geschichte! Ich habe sie sehr genossen! Sie ist für mich wie eine schöne Erinnerung…

  3. Klein und fein und kostbar und zum Weitererzählen empfohlen!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!
    Danke herzlich für dieses Herz-Mümpfeli
    Katharina

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert