Ein kleines Wunder

Es ist schon wieder passiert. Dabei geht so etwas doch gar nicht. Was soll man da eigentlich noch glauben. Und eben, das ist nicht das erste Mal und auch nicht das zweite Mal. Es passiert, wenn du es nicht erwartest und es gibt keine logische Erklärung dafür.

„Mach’s nicht so spannend und rück‘ endlich raus damit!“ denkst du jetzt bestimmt. Das wäre auch nicht weiter schwierig, aber weil das ja eine Geschichte werden soll, bringt es nichts, jetzt mit Fakten und Statistik und einem Reporter „vor Ort“ über Dinge zu berichten, von denen man noch gar nichts weiss, ausser dass sie eben passiert sind.

Der Gwunderi hatte schon am Vorabend gemerkt, dass sich in seinen Bronchien etwas zusammenbraute, das nicht nur mit seiner dummen Rauchrei zu tun hatte. Er hatte sich ein Halstuch umgebunden und war trotzdem, aber ohne die Zigaretten einzupacken, in der Musikprobe erschienen. Wieder zu Hause hatte er heissen Tee gemacht und war dann beizeiten unter die Decke geschlüpft.

Am anderen Morgen, als der Gwunderi erwachte, war da vor allem ein riesiger Hals mit fast keinem Bisschen Gwunderi dran. Er sagte telefonisch mit der Bass-Stimme eines texanischen Ölmilliardärs alles ab und verkroch sich bei schönstem Frühlingswetter in seinem einsamen Studierzimmer. Weil er nichts Gescheites tun mochte, suchte er im Wikipedia bei ein paar klassischen und modernen Philosophen nach vertretbaren Erklärungen für den Lauf der Welt und dem Schicksal seiner Bewohner.

Er hatte ein paar Anhaltspunkte gefunden, aber dann war er müde geworden und die immer häufigeren von Kopfschmerzen begleiteten Hustenanfälle liessen ihn aufgeben, abschalten und wieder unter die Decke kriechen. Er zog die Knie an und die Decke über den Kopf. Um seinen wunden Hals nicht auf sich aufmerksam zu machen, liess er die Gedanken schweifen wohin sie wollten. Die liessen sich das nicht zweimal sagen. Buchstaben, Zahlen, Symbole, Formen, Farben, Wahrnehmung, Glück, Lust, Trauer, Leid, Raum, Zeit, Anfang, Ende, Krieg, Frieden, Geburt, Tod, alles wirbelte wild durcheinander, bis es im Traum zu einer unlogischen aber einleuchtenden Geschichte fand.

Der Gwunderi hatte ein paar wenige Träume, an die er sich später noch erinnern konnte. Zum Beispiel passierte es immer wieder, dass er sich irgendwo verstieg, so dass es ohne ein Wunder nicht mehr weiter ging. Am schönsten war der Traum, wo er den Mut hatte von einer niedrigen Brücke zu springen, die Arme auszubreiten und dann tatsächlich in geringer Höhe über das Land fliegen konnte. Am schlimmsten war der Traum, wo er erwachte und sich nicht drehen, nicht schreien, nicht rühren konnte, bis er richtig erwachte und merkte dass das ein Traum im Traum gewesen war.

Und was ist dem Gwunderi denn jetzt so unglaubliches passiert, willst du vielleicht endlich wissen? Also dann, dann sag‘ ich’s dir als Allernächstes.

Im Jahre 1990 hatte ein Philosophielehrer aus Norwegen einen Roman geschrieben. Der Roman war so erfolgreich, dass er in viele Sprachen übersetzt wurde, so auch ins Deutsche. Eines dieser Bücher machte sich auf die Reise, von der Druckerei in die Buchhandlung, von da zu einem begeisterten Leser, von ihm zu jemandem ins Büchergestell und so fort. Und als der Gwunderi mit seinem dicken Hals wieder erwachte, tanzte es direkt vor seiner Nase herum, so dass er es ergriff und zu lesen begann und nicht mehr aus der Hand legte, bis ihm der Hintern vom Stillsitzen so schmerzte, dass sein Hals beleidigt und unbemerkt seiner Aufmerksamkeit entschwunden war.

Das Buch hat den Titel „Sofies Welt“. Es erzählt auf unterhaltsame Art die Geschichte der Weltanschauungen von den alten Griechen bis ins Jahr Neunzehnhundertneunzig. Tupfhaargenau das, was den Gwunderi in diesem Augenblick grad am allermeisten interessierte. Er war sich sicher, dass das Buch ihn gefunden hatte, es hatte nur auf den richtigen Moment gewartet und zugeschlagen, als es soweit war. Und wie gesagt war es schon mehrfach passiert, dass ihm ein Buch genau im richtigen Moment vor den Augen herum getanzt hatte.

Manche werden das für Zufall halten. Andere werden es glückliche Fügung nennen. Für wieder andere steckt eine höhere Macht dahinter. Meine Erklärung geht so: Ein gutes Buch sucht sich seinen Autor, dann überzeugt es seinen Verlag, lässt sich von seiner Druckerei einkleiden und zum Schluss schnappt es sich seinen Leser. Dann ist es glücklich da angelangt, wo es von Anfang an hin wollte. Da kann man nichts machen. Das ist einfach so.

One thought on “Ein kleines Wunder”

  1. Lieber Max, noch bevor Du auf den Punkt gekommen bist,
    habe ich beim Lesen den Buchtitel erraten: „Sophie’s World“,
    ein schönes Buch, das man durchaus ein zweites Mal lesen
    könnte. Gilt auch für mich!
    Jostein Gaarder hat mit diesem seinem Erfolg einen Fond,
    „the Sophie’s Prize“, eingerichtet und zeichnet damit Menschen aus, die mit ihren Forschungen einen Beitrag gegen die Klimaerwärmung leisten.
    Ausserdem wurde das Buch 1999 verfilmt. Ob das Resultat dieser Adaption als ein gelungenes bezeichnet werden kann,
    weiss ich nicht. Danke Max und Gruss, Willy

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